Die Schattenträumerin
zu sich, kniete sich hin und öffnete leise den Reißverschluss, um Gianna nicht zu wecken. Trotz des Feuers in ihrem Rücken überlief sie wie immer ein kalter Schauer, als sie das Necronomicon in die Hand nahm. Für einen kurzen Moment glaubte sie sogar, eine schwarze Nebelschwade über den Buchdeckel gleiten zu sehen und gleichzeitig eine Art erleichtertes Seufzen zu hören.
Suchend fuhren ihre Finger über den Einband. Francesca überprüfte jede Unebenheit, jede noch so kleine Einkerbung des Leders, doch im Schein des Feuers konnte sie nichts entdecken, außer dem Titel und dem mit bloßem Auge kaum erkennbaren Wappen. Sie starrte frustriert auf die fast unsichtbaren Initialen Alessandros. Wahrscheinlich war er der Einzige, der wusste, wie man den Fluch, den er ausgesprochen hatte, wieder aufheben konnte.
Francesca presste enttäuscht die Lippen zusammen. Sie wusste, dass das Necronomicon ihr einziger Ansatzpunkt war. Es musste ihr irgendwie weiterhelfen … Sie hatte das Gefühl, dass sie die Lösung direkt vor Augen hatte. Der Gedanke schien zum Greifen nahe, sie musste nur ihre Hand danach ausstrecken und – nein, sie kam nicht darauf.
Sie ließ das Buch kraftlos auf ihre Knie sinken. Wenn sie nicht bald eine Idee hatte, war alles verloren. Solange es Nyarlath gab und der Fluch auf Venedig lag, würde sie niemalsFrieden finden – selbst wenn sie ihm das Necronomicon übergab. Sie betrachtete voller Abscheu das Buch. Es war schuld daran, dass jahrhundertelang Generationen von Medicis gequält und in den Wahnsinn getrieben worden waren – und wenn sie, Francesca, keine Lösung fand, würde es am Ende immer so weitergehen. Ihr kam ein schrecklicher Gedanke. Was wäre, wenn sie selbst irgendwann Kinder bekäme? Durch ihr Verschulden war der einzige Schutz, die Traumgondel, verloren. Das bedeutete, dass nicht nur sie für den Rest ihres Lebens in Angst vor der Nacht leben musste, sondern vielleicht auch ihre Nachkommen …
Die ganze Verantwortung für das, was in Zukunft geschehen würde, lastete nun auf Francesca. Mit jedem neuen Beben, das Venedig erschütterte, erinnerte Nyarlath sie daran. Sie allein musste in wenigen Stunden dem Dämon gegenübertreten – entweder mit oder ohne Necronomicon.
Sie trug die Schuld, wenn die prächtigen Paläste Venedigs im Meer versinken würden. Wie Atlantis würde La Serenissima vom Wasser verschlungen werden und nur noch Geschichten würden von der Goldenen Stadt zurückbleiben. Venedig, eine verklingende Melodie – einzig ihr Name würde auf ewig bestehen, als letztes Echo ihrer einstigen Pracht.
Aber genauso hatte Francesca es zu verantworten, wenn Nyarlath die Mächte des Buches entfesselte und die ganze Welt ein Ort des Schreckens und der Dunkelheit wurde. Mit Grauen dachte sie daran, wie er mithilfe des Necronomicons unzählige seiner Brüder in diese Welt holen würde. Ohne Gnade würden sie sich auf alles Lebendige stürzen,genau wie die Kreatur in Fiorellas Zimmer über Francesca hatte herfallen wollen.
Sie ließ die Schultern hängen. Das war doch nicht fair! Sie spürte, wie ihr Tränen der Verzweiflung über die Wangen liefen. Es war alles so aussichtslos. Dieses elende Buch! Mit jeder Faser ihres Herzens wünschte sie sich, dass Baldini es ihr niemals gegeben hätte … Wenn Gianna sie nach Fiorellas Unfall nur nicht davon abgehalten hätte, das Necronomicon in den Kanal zu werfen! Dann wäre sie nun nicht in der schwierigen Lage, eine solche Entscheidung fällen zu müssen. Sie wollte diese Verantwortung nicht tragen, sie wollte dieses Buch nicht haben! Ehe Francesca wusste, wie ihr geschah, hatte sie das Buch gepackt und in einer wütenden Geste ins Feuer geschleudert. Sofort griffen die Flammen danach, züngelten um den Ledereinband und die wertvollen Pergamentseiten, um sie für immer zu verschlingen.
Entsetzt sah Francesca in den Kamin. Augenblicklich bereute sie, was sie getan hatte. Wie konnte sie sich nur zu so einer Dummheit hinreißen lassen?
»Oh scheiße!«, stieß sie panisch hervor.
Erschrocken fuhr Gianna in die Höhe. Als sie das Necronomicon inmitten der Holzscheite liegen sah, weiteten sich ihre Augen.
»Bist du verrückt geworden?«, schrie sie.
»Es tut mir so leid. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Es … es liegt wohl an der Übermüdung«, stammelte Francesca eine Entschuldigung und rang hilflos die Hände. »Ich konnte nicht mehr klar denken und war so wütend, weil wir doch keine Chance …«
Gianna
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