Die Schattenträumerin
schnitt ihr mit einer ungeduldigen Handbewegung das Wort ab. »Schnell, mach was!« Sie stand so hastig auf, dass ihr Stuhl zu Boden polterte. »Hol es wieder raus!«
Gianna hatte recht: Francesca musste das Buch retten, ehe es vollständig verbrannte! Hektisch griff sie nach dem Schürhaken und ignorierte den Schmerz, der ihr dabei in ihr verstauchtes Handgelenk fuhr. Zu ihrem Pech war das Necronomicon mittlerweile über die Holzscheite nach hinten auf die Kaminwand zugerutscht. Wagemutig beugte sie sich über die Flammen. Hitze brandete über ihr Gesicht und für einen Moment hatte sie das wahnwitzige Gefühl, dass ihre Gesichtszüge schmelzen würden. Endlich war sie nahe genug, um den Schürhaken unter das Buch zu schieben.
Stirnrunzelnd hielt Francesca inne. Täuschte sie sich? Spielten ihre Augen ihr nur einen Streich? Sie sah, wie die Flammen um das Buch züngelten, doch es … brannte nicht.
»Worauf wartest du denn?« Ungeduldig stieß Gianna sie beiseite und entriss ihr den Schürhaken. Beherzt schob sie ihn unter das Buch und zog es mit einem Ruck aus dem Feuer.
Es war völlig unversehrt. Sprachlos blickte Francesca auf das am Boden liegende Buch. Sie fuhr mit der Hand über den Einband. »Es ist eiskalt.«
»Da haben wir noch mal Glück gehabt!« Mit einem erleichterten Lächeln blickte Gianna auf das Necronomicon.
»Das war kein Glück«, widersprach Francesca heftig. »Es lag minutenlang im Feuer, das Papier ist alt und ausgetrocknet.Es hätte sofort anfangen müssen zu brennen.« Sie warf Gianna einen eindringlichen Blick zu. »Dass es nicht die geringsten Brandspuren hat, ist absolut unmöglich.«
Sie erinnerte sich an ihr letztes Gespräch mit Baldini. Hatte er ihr nicht erzählt, dass er das Buch ursprünglich hatte zerstören wollen, nachdem ihm seine Gefährlichkeit bewusst geworden war? Dass er stattdessen ein silbernes Verlies für das Necronomicon gebaut hatte, konnte nur bedeuten, dass auch er an diesem Vorhaben gescheitert war.
»Es muss durch irgendeinen Zauber geschützt sein«, überlegte sie laut. »Man kann es nicht zerstören wie ein gewöhnliches Buch.«
»Eigentlich war das fast zu erwarten, oder nicht?«, meinte Gianna. Sie setzte sich wieder an den Tisch und rieb sich über ihre vom Schlaf verquollenen Augen. »Immerhin kann man damit Dämonen beschwören und Tote zum Leben erwecken. Warum sollte es dann nicht auch unzerstörbar sein?«
Francesca wollte gerade etwas erwidern, doch dann erstarrte sie.
»Tote zum Leben erwecken …«, wiederholte sie leise. Ihr Blick wanderte vom Necronomicon zu Knüttelsiels Abhandlung und zurück.
»Du hast schon wieder dieses seltsame Leuchten in den Augen«, bemerkte Gianna nervös. »Mir schwant Übles.«
Francesca setzte ein breites Grinsen auf. »Ich hatte gerade eine Eingebung«, verkündete sie und bestätigte damit wohl Giannas schlimmste Befürchtungen. »Jetzt weiß ich, was wir tun müssen, um die beiden Flüche aufzuheben.«
»Ich finde immer noch, dass das eine richtig blöde Idee ist«, sagte Gianna wahrscheinlich zum hundertsten Mal.
Sie waren im Ballsaal des Palazzos und Francesca konzentrierte sich gerade darauf, mit einem Kohlestift fremdartige Zeichen auf den Boden zu malen.
»Ich weiß, das sagtest du schon«, antwortete sie abwesend. »Könntest du mir bitte noch mal die Seite mit dem Spiegelpentagramm zeigen? Ich möchte hier nichts falsch aufzeichnen.«
Widerwillig hielt Gianna ihr Knüttelsiels Abhandlung unter die Nase. »Hast du mir nicht selbst erzählt, dass du Baldini versprechen musstest, nie in dem Buch zu lesen? Was du jetzt vorhast, ist sogar noch schlimmer. Viel, viel schlimmer.«
»Ja, ja«, stöhnte Francesca genervt.
»Ja, ja«, äffte Gianna sie nach. »Damit willst du wohl sagen Leck mich am …«
»Nein«, fiel ihr Francesca ins Wort. »Das war ein ›Ja, ja‹ im Sinne von: Ich kenne die Argumente, die dagegensprechen, selbst alle sehr gut, aber mein Entschluss steht fest.«
Sie erhob sich und betrachtete zufrieden ihr Werk. »Jetzt ist es fertig.«
Sie hatte zwei große Pentagramme auf den Boden gemalt und fein säuberlich die Schriftzeichen in die Dreiecke eingefügt. Links war das Schutzpentagramm, in dem sie selbst stehen würde, rechts würde der von ihr heraufbeschworene Geist gefangen sein. Jedenfalls, wenn sie alles richtig gemacht hatte. Genau in der Mitte der Pentagramme, in einem hoch aufgeschütteten Kreis aus Salz, lagdas Necronomicon auf Violas Kochbuchhalter. »Nun
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