Die Schattenträumerin
große Schwäche.«
Francesca schluckte schwer.
»Es ist die Angst. Die Angst vor dem Dunkel, in dem das Böse lauert. Die Angst, dass dir dieses Böse raubt, was dir lieb ist. Auch du hast diese Angst, Menschenkind, nicht wahr?«
Sofort dachte sie daran, wie sie vor ein paar Tagen Fiorellas scheinbar leblosen Körper an sich gedrückt hatte. Schon allein die Erinnerung daran stach wie ein Messer in ihrHerz. Das Gefühl, nie wieder ihre Stimme hören zu können, nie wieder ihre warme Berührung fühlen zu dürfen, war schrecklich gewesen.
»Wir können dich von deiner Angst befreien. Niemals wird dich jemand verlassen, der dein Herz bewohnt. Das willst du doch, oder?«
Francescas Mund öffnete sich ganz automatisch. Sie wollte zustimmen, den Widerstand gegen die Stimme aufgeben und sich ihren verheißungsvollen Versprechungen hingeben.
Doch ein kleiner Teil ihres Bewusstseins erinnerte Francesca daran, dass sie den Mächten dieses Buches nicht vertrauen durfte. Das waren die Lockrufe des Necronomicons, denen auch schon Fiorella erlegen war. Doch im Gegensatz zu ihrer Großmutter war sie, Francesca, gewarnt – sie wusste, dass sie nicht auf diese Stimmen hören durfte! Sie waren böse und alles, was sie ihr versprachen, würde ebenfalls im Bösen enden.
Entschlossen schüttelte Francesca den Kopf. »Nein, ich weiß, dass ihr lügt! Ihr wollt mich nur dazu bringen, das Necronomicon in eurem Sinne zu benutzen. Aber ich werde mich nicht zu eurer Marionette machen lassen!«
Sie musste es irgendwie schaffen, ihre Hand aus diesem Kreis herauszubekommen. Sobald es ihr gelingen würde, sich dem unsichtbaren Schutzschild des Salzkreises zu nähern, würde die Nebelsäule von ihr ablassen müssen. Eine fast schon störrische Entschlossenheit durchflutete sie und gab ihr neue Kraft. Francesca stützte sich auf dem Boden ab und begann so fest zu ziehen, wie sie konnte.
»Neeeein!«
Der Chor der Stimmen in ihrem Kopf schrie entrüstet auf, die Nebelschlange klammerte sich verzweifelt an ihren Finger. Doch auch Francesca hatte nicht vor, nachzulassen und lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht nach hinten. Während ihr kleiner Finger sich in einem unnatürlichen Winkel seitlich abspreizte, näherte sich ihre Hand Stück für Stück dem Schutzschild. Je näher sie ihm kam, umso mehr ließ die Kraft der Nebelschlange nach und die kreischenden Stimmen in ihrem Kopf wurden leiser.
»Bleib bei uns, Menschenkind … du kannst uns nicht entfliehen … bleib …«
Sie presste die Augen zusammen. Nur noch ein kleines Stückchen! Der Schmerz in ihrem Finger wurde unerträglich. Sie war sich sicher, dass der Knochen jeden Augenblick brechen würde, doch Francesca biss die Zähne zusammen. Sie musste ihre Hand befreien, sie musste diese Stimmen loswerden!
Da, endlich – ihr Handgelenk befand sich außerhalb des Schutzkreises. Das war ihre Chance! Nun konnte sie mit ihrer linken Hand die Armreifen nach vorne schieben. Sie gab dem Silberschmuck so viel Schwung, dass er sich wie von alleine in Richtung ihrer Finger schob. Noch ehe die Armreifen die Nebelschlange berührten, zuckte diese schon zurück und gab den Finger frei. Francesca stürzte mit vollem Schwung nach hinten zu Boden. Sie hatte es geschafft!
Benommen blieb sie liegen. Francesca konnte es kaum glauben: Ihr war es gelungen, sich von der unheimlichen Macht des Necronomicons zu befreien! Vorsichtig bewegtesie ihren kleinen Finger und stellte erleichtert fest, dass er nicht gebrochen war.
Als sich ihr Herzschlag langsam wieder beruhigte, richtete sie sich auf. Die Nebelsäule tanzte unruhig über dem geöffneten Buch. Nervös massierte Francesca ihren schmerzenden Finger. Wollte sie tatsächlich mit der Beschwörung fortfahren? War es nicht reines Glück gewesen, dass sie den Kampf mit der Nebelschlange gewonnen hatte? Vielleicht hatte Gianna recht damit gehabt, dass sie sich mit Mächten anlegte, denen sie nichts entgegenzusetzen hatte. Gerade hatte sie einen kleinen Vorgeschmack davon bekommen, was sie bei einer Beschwörung erwarten konnte. Nicht umsonst zitterte sie immer noch am ganzen Körper.
Moment mal …
Francesca riss die Augen auf. Das war nicht allein ihr Körper, der zitterte, es war schon wieder ein Erdbeben! Kaum, dass es ihr bewusst geworden war, wurde es auch schon stärker und griff auf die Wände über. Der ganze Palazzo wurde wie von einem Riesen durchgerüttelt. Francesca blieb stocksteif auf dem Boden sitzen und vergrub ihren Kopf schützend
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