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Die Schattenwelt

Titel: Die Schattenwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Becker
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sah sich um. Zahllose Fensterreihen starrten ihn ausdruckslos an.
    »Nein, ist nicht nötig. Ich bin auf dem Heimweg«, entgegnete er.

2
    Miss Elwood trommelte mit ihren Fingern ungeduldig auf das Lenkrad.
    »Verdammte Straßenarbeiten! Heute Abend geht einfach nichts voran. Ich fürchte, die Fahrt wird ein kleine Ewigkeit dauern.«
    Sie griff ins Handschuhfach und zog ein paar angestaubte Bonbons hervor.
    »Willst du eins?«
    Jonathan schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«
    Miss Elwood lächelte und tätschelte ihm kurz den Arm. Sie war eine zierliche Frau, nur ungefähr einen Meter vierzig groß, mit hüftlangen blonden Haaren. Sie musste auf einem Kissen sitzen, um über das Lenkrad blicken zu können, und die Pedale ihres Autos waren verlängert, damit sie sie überhaupt mit ihren Füßen erreichen konnte. Als Jonathan das erste Mal bei ihr mitgefahren war, hatte ihn dieser ungewöhnliche Aufbau sehr nervös gemacht. Das war schon einige Jahre her. Inzwischen wusste er, dass Miss Elwood eine schnelle und sichere Fahrerin war und eine Frau, die man nicht unterschätzen sollte.
    »Bevor du aufgetaucht bist, habe ich gerade die Nachrichten gesehen«, bemerkte sie, während sie gedankenverloren ein Karamellbonbon kaute. »Ein Junge in deinem Alter ist bei einem Schulausflug verschwunden. Am Trafalgar Square. Und das auch noch am helllichten Tag! Seine Eltern müssen durchdrehen vor Angst.«
    Jonathan nickte. Am liebsten hätte er das Radio eingeschaltet, aber er wusste, dass sie mit ihm reden wollte, damit er sich besser fühlte. Wie jedes Mal, wenn sein Vater krank wurde, wusste er nicht, wie er reagieren sollte. Er spürte, dass die Leute von ihm erwarteten, ja sogar wollten, dass er weinte und jammerte. Aber Alain Starling war schon so oft krank gewesen, und Jonathan hatte schon so viele Stunden in zugigen Krankenhausfluren gewartet, dass er nicht mehr die Kraft hatte, irgendetwas dabei zu empfinden. Es war eben einfach so.
    »Wie hast du von der Sache mit Dad erfahren?«
    »Ich habe den Krankenwagen am Fenster vorbeifahren sehen. Und da hatte ich so eine schreckliche Vorahnung, dass es um ihn ging. Also bin ich nach draußen gerannt und habe sie vor eurem Haus anhalten sehen.« Sie seufzte. »Oh, es ist so ein Jammer, Jonathan. Ich dachte wirklich, dass es ihm in letzter Zeit besser ging. Er schien mir wieder mehr wie früher zu sein.«
    Jonathan zuckte mit den Schultern. Er wusste nicht, wie sein Vater »früher« gewesen war. Alain Starling war, seit er denken konnte, zu seinem Sohn stets kühl und distanziert gewesen. Andererseitswusste Jonathan auch, dass Miss Elwood seinen Vater seit sehr langer Zeit kannte, lange genug, um ihm auch dann noch die Treue zu halten, als alle anderen sich schon längst von ihm abgewandt hatten. Vielleicht war er früher anders gewesen.
    In einem Punkt hatte sie trotzdem recht. Es war schon eine Weile her, dass sein Vater das letze Mal krank gewesen war. Jeder hatte eine andere Umschreibung für das, was geschah: Die Nachbarn nannten es »Phasen« oder »Episoden«; die Ärzte benutzten eine ganze Palette von unglaublich langen und komplizierten Fachausdrücken, um zu verbergen, dass sie keine Ahnung hatten, was vor sich ging, und die Kinder in der Schule sagten einfach, er sei »durchgeknallt«. Jonathan bevorzugte es, die Worte zu gebrauchen, die sein Vater ihm einst in einem hellen Moment ins Ohr geflüstert hatte: »Die Finsternis, mein Sohn. Ich spüre das Herannahen der Finsternis …«
    Die Autos vor ihnen setzten sich langsam wieder in Bewegung. Miss Elwood tätschelte Jonathan nochmals am Arm und lächelte.
    »Alles wird gut, glaub mir. Willst du das Radio einschalten?«
    Jonathan nickte, und sie sprachen kein weiteres Wort, bis sie das Krankenhaus erreicht hatten. Das Sankt-Christopher-Krankenhaus lag im Westteil der Stadt in der Nähe des Hyde-Park. Es war wie ein mittelalterliches Kloster vor der Außenwelt geschützt und ein Ort für Langzeitkranke und geistig Verwirrte. Es gab dort keine Notaufnahme. Obwohl dieengen Gänge genauso nach Desinfektionsmittel rochen wie in jedem anderen Krankenhaus, herrschte hier eine andersartige, jenseitige Atmosphäre. Jonathan spürte es sofort, als sie durch den Torbogen auf den Parkplatz einbogen: ein durchdringendes Gefühl der Hoffnungslosigkeit.
    Die Dunkelheit senkte sich rasch über sie, und als Jonathan aus dem Wagen ausstieg, spürte er ein paar Regentropfen auf seinem Kopf. Er betrat das Krankenhaus durch die

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