Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Schattenwelt

Titel: Die Schattenwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Becker
Vom Netzwerk:
Als Jonathan an ihm vorbeiging, musterte der Mann ihn mit einem stechenden Blick – das Gesicht angstverzerrt. Jonathan war erleichtert, als sie einen lang gezogenen, ruhigen Gang betraten. Das Personal kannte Alain gut und so wiesen sie ihm immer ein Privatzimmer ganz am Ende des Krankenhauses zu. Zimmer sieben war das vorletzte am Ende des Flurs. Aus dem letzten Zimmer drang ein mitleiderregendes Wimmern, aber in Alains Zimmer war es ruhig. Jonathan atmete tief durch und trat ein. Miss Elwood folgte ihm. Zimmer sieben war ein sehr beengter Raum, nur mit dem Nötigsten an Möbeln ausgestattet. Eine kleine Nachttischlampe war die einzige Lichtquelle und in der Luft lag ein modriger Geruch. Alain Starling lag regungslosauf dem Bett. Seine Haut war weiß und glänzte vor Schweiß. Seine Gesichtszüge waren verzerrt, der Mund weit geöffnet. Aus seinem Mundwinkel lief etwas Speichel über seine Wange. Er nahm seinen Sohn nicht wahr.
    »Alles klar, Dad?«, fragte Jonathan in munterem Tonfall. Um ehrlich zu sein, schockierte ihn der Anblick seines Vaters nach einer »Finsternis« nach all den Jahren nicht mehr. Früher, als er jünger gewesen war, hatte er es kaum ertragen können, Alain in diesem Zustand zu sehen, aber inzwischen hatte er ihn oft genug so erlebt.
    »Hallo, Alain.« Miss Elwood näherte sich etwas nervös.
    »Also, wie geht es dir, Dad?« Jonathan schob einen Stuhl neben das Bett. »Du siehst gar nicht so übel aus. Hab dich schon schlimmer erlebt.«
    Alain Starling zuckte mit keinem Muskel. Jonathan wischte ihm mit seinem Hemdärmel den Speichel von der Wange.
    »Das ist trotzdem ein wenig unschön«, murmelte er.
    »Wie fühlst du dich, Alain?«, fragte Miss Elwood.
    Keine Antwort. Seine Augen blieben starr auf die Decke gerichtet. Man konnte sich nicht einmal sicher sein, ob er überhaupt atmete.
    »Möchtest du wissen, was bei mir so los war?«, fuhr Jonathan fort. »Ähm … Was habe ich in letzter Zeit gemacht? Oh, ich wurde vor ein paar Wochen von der Schule suspendiert. Sie haben mich erwischt, als ich inder Unterrichtszeit in Regent’s-Park abhing. Tut mir leid. Ich wollte dir davon erzählen, aber wir haben ja nicht viel miteinander geredet und es erschien mir ohnehin sinnlos. Sie meinten, wenn ich noch mal Ärger mache, schmeißen sie mich raus, aber ich glaube nicht, dass sie damit ernst machen werden. Und die mittlere Reife bringt ja ohnehin nicht viel.«
    »Bitte, Jonathan«, unterbrach ihn Miss Elwood sanft. »Du weißt doch, dass du nicht solche Dinge zu ihm sagen sollst. Damit regst du Alain nur auf.«
    Jonathan antwortete nicht. Er hatte seit fast einem Jahr nicht so viel mit seinem Vater gesprochen. Zu Hause gingen sie sich grundsätzlich aus dem Weg und begegneten sich nur ab und zu in der Küche oder auf der Treppe. Jonathan wusste, dass sein Vater ihn tief in seinem Innersten liebte und ihm nur die Worte fehlten, um seine Liebe zum Ausdruck zu bringen. Nun, da Alain regungslos vor ihm lag, fiel es ihm leichter, mit ihm zu sprechen.
    »Ich habe mir deshalb gedacht, dass ich ihnen den Ärger erspare und freiwillig gehe. Ein bisschen rumreisen. Die Welt sehen. Ich könnte im Ausland jobben und du müsstest nichts für mich bezahlen. Ich denke, das wäre gut für mich. Was meinst du?«
    Er wusste, dass sein Vater nichts sagen würde, aber er musste es zumindest versuchen. Jonathan und Miss Elwood sprachen abwechselnd mit Alain, und bemühten sich verzweifelt, irgendeine Reaktion auszulösen. Nach etlichen erfolglosen Versuchen klopfte eine Schwester zaghaft an die Tür.
    »Es tut mir leid, aber Sie müssen jetzt wirklich gehen. Die Patienten müssen endlich zur Ruhe kommen.«
    Sie machten sich bereit, zu gehen. Als Jonathan sich sicher war, dass Miss Elwood ihm den Rücken zudrehte, streichelte er seinem Vater kurz den Arm und verließ den Raum.
    Als sie durch den Gang zurückliefen, drang ein Schrei aus Zimmer acht.
    »Ich kann es spüren!«, klagte eine schrille Stimme. » Er kommt, um mich zu holen!«
    Jonathan schauderte und rannte die Treppen hinunter.

3
    Das Wetter war noch schlechter geworden. Es stürmte, als Jonathan und Miss Elwood über den Krankenhausparkplatz hasteten, und Regentropfen klatschten mit großer Wucht auf den Asphalt. Es tat gut, wieder im Auto zu sitzen. Schweigend atmeten sie durch, die Stille wurde nur vom Trommeln des Regens auf dem Autodach unterbrochen. Miss Elwood ließ ihre Finger auf dem Autoschlüssel ruhen. Die Dunkelheit vermochte ihren

Weitere Kostenlose Bücher