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Die Schattenwelt

Titel: Die Schattenwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Becker
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sorgenvollen Gesichtsausdruck nicht zu verbergen.
    Jonathan konnte sich nicht erklären, wie es dazu gekommen war, dass diese kleine Frau so eine große Rolle in seinem Leben spielte. Es gab unzählige Geheimnisse und unbeantwortete Fragen, die seine Familie betrafen. Alain Starling weigerte sich jedoch, Licht ins Dunkel zu bringen. Jonathan wusste lediglich, dass Miss Elwoods konstante, beschützende Gegenwart währte, seit er denken konnte. Als Jonathan in der Grundschule eine kleine Rolle in einem Theaterstück gespielt hatte, war es Miss Elwood gewesen, die in der ersten Reihe saß und am Ende applaudierte. Sie war es auch gewesen, die ihn auf derPolizeiwache abgeholt hatte, als man ihn des Ladendiebstahls beschuldigt hatte. Und als Alain vor einigen Jahren ernsthaft erkrankt war, war Miss Elwood plötzlich überraschend in ihrer Küche aufgetaucht und hatte verkündet, dass sie ein Haus in der selben Straße gekauft habe. Sie besuchte die beiden nahezu jeden Tag und war für Jonathan fast wie eine Mutter.
    Er hatte keine Ahnung, was mit seiner Mutter geschehen war. Theresa Starling war verschwunden, bevor Jonathan alt genug gewesen war, um sich nun an ihr Gesicht erinnern zu können. Alain verbarg die Erinnerung an sie hinter einer schützenden Mauer des Schweigens und weigerte sich, auch nur ein Wort über sie zu verlieren. Als Jonathan zehn gewesen war, hatte er versucht, während eines Angelausflugs an einen nahe gelegenen Bach die Gunst der Stunde zu nutzen und seinen Vater nach seiner Mutter zu fragen. Dreißig lange Sekunden hatte Alain geschwiegen, dann war er davonmarschiert und hatte Jonathan mit der gesamten Angelausrüstung allein zurückgelassen. Er hatte seinen Vater noch nie so wütend erlebt. Danach sprach er ihn nie wieder darauf an. Seine Mutter war fort und würde niemals zurückkehren. Alles, was ihm von ihr blieb, war ihr Name.
    »Ich weiß, dass das dumm von mir ist«, unterbrach Miss Elwood seine Gedanken mit leicht zitternder Stimme. »Ich meine, ich habe ihn schon öfter so erlebt, aber … es beunruhigt mich immer noch. Ich hoffe, dass er diesmal nicht so lange im Krankenhaus bleiben muss.«
    »Ja. Vielleicht.«
    Normalerweise erholte sich Alain nach wenigen Tagen wieder, aber manchmal dauerte es auch wesentlich länger. Als Jonathan zehn Jahre alt gewesen war, war sein Vater sechs Monate lang still und versteinert dagelegen, und die Ärzte hatten Miss Elwood mitgeteilt, dass sein Zustand sich wahrscheinlich nicht mehr ändern werde. Jonathan hatte sich in so manch trübsinnigen Moment gefragt, ob es besser gewesen wäre, wenn sein Vater nicht ein paar Tage später wieder aufgewacht wäre. Die meiste Zeit schien es so, als wolle Alain Starling nicht mehr am Leben bleiben.
    »Willst du bei mir bleiben, bis dein Vater sich erholt hat?«
    Jonathan verzog das Gesicht. »Müssen wir wieder darüber diskutieren? Du weißt doch, dass ich in meinem eigenen Bett schlafen will. Mir geht es gut zu Hause. Es hat prima funktioniert, als er das letzte Mal krank war, oder?«
    »Ich weiß nicht so recht …«, sagte sie zweifelnd.
    »Du bist schließlich nur ein paar Häuser weiter. Komm schon … Wenn Dad gesund ist, sehe ich ihn doch auch kaum.«
    Miss Elwood seufzte. »Ja, mein Schatz. Ich weiß. Wir werden sehen, wie es heute Nacht läuft. Vergewissere dich, dass dein Handy eingeschaltet ist. Ruf mich an, wenn es Probleme gibt. Versprochen?«
    Jonathan salutierte scherzhaft. »Bei meiner Ehre.«
    Sie drehte den Zündschlüssel um und kaum eine Stunde später hielten sie vor Jonathans Haus in einem baumbewachsenen Viertel im Londoner Norden. Die imposanten Mauern trotzten standhaft dem Ansturm des Regens und das knorrige Gestrüpp des Gartens stemmte sich gegen das Wüten des Windes. Jonathan wandte sich zum Aussteigen, hielt dann aber inne.
    »Danke«, murmelte er schließlich.
    Sie lächelte. »Das ist schon in Ordnung. Es ist nicht leicht, in deiner Haut zu stecken. Ich weiß das. Aber du schlägst dich wacker.«
    Er lachte bitter auf und schlug die Autotür zu.
    Jonathan lebte hier, seit er denken konnte. In einem der seltenen Momente der Offenheit hatte Alain ihm erzählt, dass sie woanders gewohnt hatten, als Jonathan ein Baby gewesen war. In irgendeinem kleinen, namenlosen Dorf im Norden. Wo Alain Starling das Geld aufgetrieben hatte, um dieses Haus zu bezahlen, blieb ein Rätsel. Viel hatten sie davon nicht mehr, es reichte gerade für Essen und Schuluniformen, einsame Urlaube und kleinere

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