Die Schattenwelt
Reparaturen am Haus. Jonathan bemerkte, dass das Unkraut seinen Kampf mit dem Straßenpflaster der Einfahrt allmählich gewann und das Haus dringend einen neuen Anstrich und neue Dachrinnen benötigte. Er kramte in seinen Taschen nach dem Hausschlüssel und betrat sein Heim.
Im Haus war es nur wenig wärmer als draußen, aber er war immerhin vor dem Regen geschützt. Ein kühler Luftzug kroch zur Begrüßung über den Holzbodenund nagte hungrig an seinen Fußgelenken. Fröstelnd betätigte Jonathan den Lichtschalter in der Eingangshalle und hoch oben an der Decke erwachte eine Glühbirne flackernd zum Leben. In ihrem matten Schein nahmen vertraute Dinge unheimliche, fremdartige Formen an. Am oberen Ende der weitläufigen Treppe schien der stockdunkle Treppenabsatz geheimnisvoll und Angst einflößend. Jonathan spürte urplötzlich den Drang, die Stille zu durchbrechen.
»Hallo?«, rief er.
Niemand antwortete.
Er zuckte mit den Schultern. Das war lächerlich. Immerhin war dies sein Zuhause und er war kein kleines Kind mehr. Jonathan hatte bereits viele Nächte allein verbracht, ohne zu wissen, ob sein Vater sich in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen hatte oder ausgegangen war. Damals hatte er auch keine Angst gehabt – im Gegenteil, er hatte die Einsamkeit sogar genossen. Die meisten Kinder würden die Freiheiten, die er hatte, genießen. Dass er sich jetzt gruselte, erschien ihm geradezu armselig.
Er marschierte in die Küche und schaltete überall auf seinem Weg die Lichter ein. Hier war es behaglicher. Die Küche war das sauberste und modernste Zimmer des Hauses. Der Kühlschrank brummte beruhigend. Jonathan goss sich ein Glas Orangensaft ein und überlegte, ob er sich etwas zu essen machen sollte. Er hatte seit dem Mittag nichts gegessen und es war schon recht spät. Andererseits war er nicht sonderlich hungrig, und er hatte keine Lust, sich etwasAufwändiges zu kochen. Als Kompromiss nahm er sich eine Tüte Chips und einen Apfel.
Draußen rollte ein schwarzer Lieferwagen langsam die Straße entlang und hielt vor dem Haus der Starlings. Der Fahrer schaltete die Scheinwerfer aus, aber niemand stieg aus.
Jonathan saß am Tisch und kaute gedankenverloren an seinem Apfel. Miss Elwood hatte versprochen, morgen in der Schule anzurufen, sodass er zumindest bis zum Wochenende frei hatte. Er musste also nicht früh ins Bett gehen. Er schaltete den Fernseher an und zappte durch das Programm, aber es lief nichts Besonderes. Zum hundertsten Mal verwünschte er seinen Vater dafür, dass er sich standhaft weigerte, eine Satellitenschüssel zu kaufen. Jonathan hatte einige Wochen mit dem Versuch verschwendet, ihn zu überreden, bis er schließlich zu dem Schluss gekommen war, dass sein Vater nicht die leiseste Ahnung hatte, was eine Satellitenschüssel überhaupt war.
Es musste irgendetwas geben, das er tun konnte. Jonathan hatte nichts dagegen, allein zu sein – meistens war ihm das sogar sehr recht – aber heute Abend wollte er mehr tun, als nur auf den Bett zu liegen und vor sich hin zum träumen. Er hatte keinen Computer, aber immerhin hatte Miss Elwood ihm versprochen, dass er eine Playstation zu Weihnachten bekommen würde. Alain lehnte Computer ab. Er sagte, dass die Leute in ihrer freien Zeit lieber Bücher lesen sollten. Nahezu alle Räume des Starling-Hauses waren mit Büchern vollgestopft; meist schmuddlige, alte Ausgabenmit langen Titeln, fehlenden Seiten und einem seltsam modrigen Geruch. Alain war am glücklichsten, wenn er, in ein Buch vertieft, die Beine über die Armlehne eines Sessels baumeln ließ. Früher hatte er einmal unterrichtet. Heute verbrachte er die meiste Zeit hinter verschlossener Tür in seinem Arbeitszimmer, und Jonathan hatte keine Vorstellung, was er dort trieb. Sein Vater hatte ihm nie gestattet, das Arbeitszimmer zu betreten, und es war der einzige Raum im Haus mit einem funktionierenden Türschloss.
Der Wind hatte gedreht und peitschte nun den Regen gegen das Küchenfenster. Jonathan stand auf und schloss die Fensterläden. Plötzlich beschlich ihn das Gefühl, dass sich etwas im Garten bewegt hatte. Er war sich nicht ganz sicher, denn es war schwierig, durch das dichte Gestrüpp irgendetwas zu erkennen. Vermutlich war es nur die Katze von nebenan, versuchte Jonathan sich selbst zu beruhigen. Kein Grund zur Besorgnis. Dennoch vergewisserte er sich nochmals, dass die Hintertür verschlossen war, und verließ die Küche.
Er beschloss, in sein Zimmer zu gehen und im Bett
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