Die Schattenwelt
fernzusehen. Selbst wenn nur irgendeine langweilige Dokumentation oder eine Heimwerkersendung lief, so war das immer noch besser, als hier unten herumzuhängen. Er durchstreifte alle Räume im Erdgeschoss, zog die Vorhänge zu und überprüfte, ob die Fenster geschlossen waren. Das Wetter war immer noch schlecht, aber er nahm keinerlei Bewegungenwahr. Als er zu der Überzeugung gelangt war, dass das Haus sicher verschlossen war, ging er die Treppe hinauf.
Auf dem oberen Treppenabsatz herrschte ein Durcheinander. Der Läufer, der den Boden bedeckte, war verschoben, und eines der Bilder hing schief. Jonathan vermutete, dass sein Vater heute an dieser Stelle die »Finsternis« durchlebt hatte. Die Unordnung musste entstanden sein, als die Sanitäter versucht hatten, ihn dort herauszuholen. Jonathan versuchte, sich die Szenerie nicht vorzustellen, während er das Gemälde wieder gerade rückte und den Läufer ausschüttelte.
Er putzte sich gerade die Zähne, als er einen dumpfen Schlag in der Nähe der Hintertür hörte. Was auch immer das war, es klang nicht nach einer Katze. Jonathan konnte in der Dunkelheit kaum etwas erkennen, als er aus dem Badezimmerfenster schaute, aber er war davon überzeugt, dass sich dort draußen irgendetwas bewegte, dass eine Gestalt im Schatten der Hauswand kauerte. Hatte jemand versucht, die Hintertür zu öffnen?
Jonathan griff nach seinem Handy und rief Miss Elwood an.
»Jonathan? Ist alles in Ordnung?«
»Ich weiß, das klingt komisch, aber … ich glaube, da draußen schleicht jemand herum. Soll ich die Polizei rufen?«
»Noch nicht. Vielleicht täuschst du dich. Bleib, wo du bist. Ich komme, so schnell ich kann.«
Sie hatte aufgelegt. Jonathan hastete im Obergeschoss umher und überprüfte alle Fenster. Jedes Geräusch, jedes Knarzen der Bodendielen, jedes Klopfen der Regentropfen gegen die Fenster schien ihm plötzlich bedrohlich. Er hörte ein leises Klicken. Es klang, als habe jemand leise eine Tür hinter sich zugezogen. Die Eingangstür! Er hatte völlig vergessen, sie abzuschließen! Und nun war jemand im Haus.
Jonathans Herz begann wie wild zu schlagen. Er musste ein sicheres Versteck finden, bis Miss Elwood kam. Sein erster Gedanke war, in sein Schlafzimmer zu flüchten. Aber sich unter dem Bett zu verstecken, das war etwas für kleine Kinder. Stattdessen eilte Jonathan zur anderen Seite des Treppenabsatzes. Er überlegte gerade, ob er versuchen sollte, durch das Schlafzimmerfenster seines Vaters auf das Dach zu gelangen, als er bemerkte, dass die Tür zum Arbeitszimmer einen Spalt offen stand. Dort musste also die »Finsternis« Alain überkommen haben! Zum ersten Mal in seinem Leben konnte Jonathan das Arbeitszimmer betreten.
Er schlich sich hinein, zog die Tür zu und drehte behutsam den Schlüssel, bis das Schloss mit einem Klicken zuschnappte. Es waren definitiv Fremde im Haus. Obwohl sie versuchten, leise zu sein, konnte Jonathan vorsichtige Schritte auf der Treppe ausmachen. Er saß mit dem Rücken gegen die Tür gelehnt auf dem Boden und wartete. Die Tür sah massiv aus, aber würde das ausreichen, um einen Eindringlingabzuwehren? Das Zimmer um ihn herum lag im Dunkeln. Trotz der Lage, in der er sich befand, drängte ihn eine innere Stimme, das Licht einzuschalten und den Raum zu erforschen. Dies war vielleicht die einzige Gelegenheit.
Die Schritte näherten sich nun dem Arbeitszimmer. Jemand begann das Obergeschoss zu durchstöbern und hielt sich einige Minuten in Jonathans Zimmer auf. Stille. Jonathan presste seinen Körper flach auf den Boden und spähte durch den Türspalt. Zunächst sah er nur die Badezimmertür, dann traten ein paar schwarze Schuhe in sein Blickfeld. Jonathan lag still da und hielt den Atem an. Sein Herz raste.
Über seinem Kopf drehte sich langsam der Türknauf. Jonathan hoffte inständig, dass das Schloss den Eindringling aufhalten würde, aber der Türknauf drehte sich gleich wieder, diesmal mit mehr Kraft. Von Treppenabsatz ertönte ein helles Heulen, das eher von einem Tier zu stammen schien als von einem Menschen. Jonathan erstarrte, als die Tür unter einem heftigen Stoß erzitterte. Dann sprang er auf und schob den schweren Schreibtisch unter Aufbietung all seiner Kräfte vor die Tür. Das Heulen auf dem Treppenabsatz wurde lauter und wilde Kratzgeräusche an der Tür ließen Jonathan zusammenzucken. Das durchdringende Geräusch splitternden Holzes ging ihm durch Mark und Bein.
Von Panik getrieben warf Jonathan wahllos alles,
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