Die Scherenfrau
kaum dass er zum Hörer gegriffen hat.
»Nichts. Sie sind noch immer mit ihr da drin.«
»Aber was ist? Was sagen sie?«
»Nichts sagen sie, niemand weiß irgendetwas.«
»Wozu rufst du mich dann an?«, sagte er ungehalten. »Ruf mich an, wenn du was weißt. Ich mache mir Sorgen, Bruder.«
»Wie spät mag es sein?«, fragte ich ihn.
»Keine Ahnung«, sagte er, »es muss so halb fünf sein.«
Johnefe dachte, dass sie Rosario mit der Vergewaltigung geschwängert hätten. Er sah, wie sie dicker wurde, und zwang sie, ins Gesundheitszentrum zu gehen, um seine Zweifel auszuräumen, obwohl sie Stein und Bein schwor, dass auf keinen Fall eine Schwangerschaft vorlag.
»Besser so für dich«, sagte er zu ihr, »denn hier bei mir werden keine kleinen Arschlöcher großgezogen.«
Was Johnefe nicht mitbekam, war, dass Rosario den Kühlschrank an einem Tag leermachen konnte. Sie dachte sich alles Mögliche aus, damit ihr niemand auf die Schliche kam. Sie legte die leeren Verpackungen von den Sachen, die sie bereits aufgefuttert hatte, wieder hinein. Sie ersetzte das, was sie gegessen hatte, mit dem, was sie im Laden an der Ecke anschreiben lassen konnte, wenn sie es nicht vorher auf dem Weg nach Hause verschlang. Doch war es genau die Rechnung des Ladenbesitzers, die Johnefes Zweifel ausräumte und Rosario verriet.
»Also, dann erklär mir das mal«, forderte Johnefe sie mit der Rechnung in der Hand auf, »fünf Pfund Speck, drei Pfund Zucker, zwei Liter Eis, eine Torte, dreiundzwanzig Schokoriegel, wie lange braucht jemand, um dreiundzwanzig Schokoriegel zu essen? Sechs Dutzend Eier, acht Pfund Fleisch, zwölf Liter Milch, und hier essen nur du und ich und Deisy, und diese Rechnung ist von diesem Monat, nur von diesem Monat, sei so freundlich, und erklär mir das.«
»Was soll ich dir bitte erklären?«, fauchte sie. »Ich hab das Zeug gegessen, und wenn du wegen dieser Scheißrechnung so ein Geschrei machst, dann bezahl ich sie eben.«
»Das kann man auch von weitem sehen, dass du das alles gegessen hast. Und du glaubst, dass ich mir den Arsch aufreiße, während du hier faul rumliegst und fett wirst wie eine Kuh, dass ich meine Haut riskiere und mein Gesicht hinhalte, um die Kohle ranzuschaffen, damit du es dir hier gemütlich machst und wie eine Prinzessin lebst?«
»Wenn dir das so auf den Keks geht«, fuhr Rosario im gleichen Ton fort, »dann geh ich halt wieder zu meiner Mama zurück.«
»Du weißt genau, dass du dich bei Doña Rubí nicht blicken lassen kannst. Ich weiß nicht, was du dort angestellt hast, aber jedenfalls hast du ihre Wohnung in einen Schweinestall verwandelt. Was hast du da eigentlich gemacht, Rosario? Das Lügenmärchen von deiner Menstruation glaubt dir kein Mensch. Wenn das stimmt, dann müsstest du schon halb tot sein. Und fang bloß nicht an zu heulen! Heul nicht, und du auch nicht, Deisy! Meine Güte, woher kommt das nur, dass alle Frauen losheulen, wenn man ihnen mal die Meinung sagt?«
»Ich heule ja gar nicht«, sagte Rosario heulend.
»Ich auch nicht«, ergänzte Deisy tränenerstickt.
Rosario heulte fast immer aus Wut. Selten sah ich sie weinen, weil sie traurig war. Jedenfalls hatte sie nicht nah am Wasser gebaut, sie fing nur in Extremsituationen damit an. Eine dieser Situationen war, zu erleben, dass ihr Bruder, die Liebe ihres Lebens, sauer war auf sie.
»Wegen ihm habe ich jedes Mal wieder abgenommen«, erinnerte sie sich. »Er mochte es nicht, wenn ich dick wurde. Er machte sich lustig über mich, wenn er meine überflüssigen Pfunde sah. Außerdem versuchte er herauszufinden, was ich so trieb, wenn ich aus dem Leim ging. Es gefiel ihm gar nicht, wenn ich mir Probleme aufhalste.«
Ich sah sie mehr als einmal dick werden, und jedes Mal steckte sie in den allergrößten Schwierigkeiten. Genauso oft, wie sie einen Kuss mit einem Schuss zusammenfallen ließ.
»Ich verstehe deine schwachsinnige Angewohnheit nicht, die Toten zu küssen!«, schleuderte Emilio ihr wütend entgegen.
»Welche Toten?«, gab sie zur Antwort. »Ich küsse sie, bevor sie sterben.«
»Ist ja egal, aber was haben die Küsse mit dem Tod zu tun?«
Emilio lernte, mit der gleichen Selbstverständlichkeit vom Tod zu reden, wie sie tötete. Weil er ihr hinterherlief, geriet er immer tiefer in die seltsame Welt von Rosario, und als er merkte, in was er hineingeraten war, standen ihm sein fragwürdiger Lebenswandel und seine Schulden und Probleme bis zum Hals. Um sie zu kriegen, hatte er sich ihr ganz
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