Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Scherenfrau

Die Scherenfrau

Titel: Die Scherenfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorge Franco
Vom Netzwerk:
Waffe, noch brachte ich es fertig, sie stehen zu lassen. Dann, als hätte sie irgendetwas eingeworfen, beruhigte sie sich.
    »Sie haben die Liebe meines Lebens umgebracht, Kumpel«, sagte sie. »Den Einzigen, der mich geliebt hat.«
    Ich war eifersüchtig. Was Emilio nie in mir geweckt hatte, fühlte ich an diesem Tag wegen ihres toten Bruders. Ich dachte, ich sollte ihr ehrlich sagen, was ich empfand, sie von ihrer Unkenntnis befreien und ihr sagen, dass es jemanden gab, der sie mehr liebte als der Rest der Welt.
    »Ich liebe dich, Rosario«, begann ich entschlossen. »… Wir alle lieben dich«, fügte ich feige hinzu.
    Auch dieses Mal war ich nicht dazu in der Lage. Außerdem, und darin gab ich mir Recht, war das nicht der richtige Tag für eine Liebeserklärung.
    »Danke, Kumpel«, war alles, was sie dazu sagte.
    Als wir im unteren Bereich des Viertels ankamen, fing sie an, mir den Weg zu weisen. Wir hatten das Labyrinth, das fremde Territorium erreicht. Es blieb mir nichts anderes übrig, als den Anweisungen zu folgen.
    Was dann kam, war Verblüffung über die Umgebung und Bestürzung angesichts der Augen, die unserer Fahrt hinauf folgten, Blicke, die ich nicht kannte und die mir ein Gefühl von Fremdheit gaben. Gesten, die mich zu der Frage zwangen, was ich, ein Fremder, hier zu suchen hatte.
    »Setz mich hier ab«, unterbrach Rosario meine Grübeleien, »ich geh zu Fuß weiter.«
    »Aber wieso? Ich fahr dich bis nach Hause.«
    »Der Wagen schafft die Steigung nicht weiter. Jetzt heißt es zu Fuß gehen.«
    Zitternd, bleich und beherrscht von einer Angst, die sie unmöglich verbergen konnte, stieg sie aus. Sie umklammerte fest ihre Handtasche und schob sich gegen das erste Morgenlicht eine Sonnenbrille auf die Nase.
    »Ich begleite dich, Rosario«, insistierte ich.
    »Ich geh besser allein weiter. Nachher erzähl ich dir alles.«
    Sie drehte sich um und erklomm einen unbefestigten Hang. Sie tat es leichtfüßig, als liefe sie auf ebener Straße.
    Ich sah ihre wohlgeformten Beine, ihren herausgestreckten Hintern, ihre trotz der Last ihres furchtbaren Schmerzes aufrechte Gestalt. Jemand in einem Türrahmen grüßte sie. Rosario war zu ihren Leuten zurückgekehrt.
    »Rosario!«, rief ich ihr aus dem Wageninnern zu, doch sie konnte mich nicht hören, »mach mir bitte keinen Kummer!«
    Ihr Leben bereitete mir Schmerzen, als wäre es mein eigenes. Sie leiden zu sehen, erfüllte mich mit Trauer. So gut ich konnte, suchte ich nach einem Weg, sie glücklich zu machen.
    «Señorita! Señorita, entschuldigen Sie!« Die Krankenschwester war an ihrem Aufsichtsplatz eingeschlafen.
    »Hä?!«
    »Entschuldigen Sie bitte, aber ich wüsste gerne etwas über Rosario, die Frau, die im OP liegt.«
    »Wer?«, fragte sie, während sie ihr Möglichstes tat, um in die Wirklichkeit zurückzukehren.
    »Rosario Ti …«, gelang es mir gerade zu sagen, denn als sie wach war, unterbrach sie mich.
    »Wenn es nichts zu berichten gibt, dann gibt es eben nichts zu berichten.«
    Ich versuchte es mit der Uhrzeit.
    »Wie spät mag es sein?«
    Sie antwortete nicht darauf, schloss die Augen und sank wieder in die Wärme ihres Stuhls zurück. Ich blickte auf die Wanduhr.
    »Halb fünf«, sagte ich leise, um sie nicht zu wecken.
    Wie die Zeit vergeht! Ich könnte schwören, dass es kaum einen Monat her war, dass wir Rosario zuletzt gesehen hatten, als Emilio und ich zu dem Schluss gekommen waren, dass wir, wenn wir nicht aufhörten, schlimmer als sie enden würden. Rosario war entschlossen, jeden mit sich in den Abgrund zu reißen. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, auf eigene Faust Geld zu beschaffen und reicher zu werden als die, von denen sie ausgehalten wurde. Was uns erschreckte, war, dass sie nur eine Methode kannte, um dieses Ziel zu erreichen. Die gleiche wie die anderen auch.
    »Es ist ganz einfach, ganz einfach«, erzählte sie uns. »Man braucht nur die richtigen Leute, und ich hab sie.«
    Es war nicht nur eine Frage der Leute. Man musste auch den Antrieb und den Schneid von Rosario haben, und wir hatten keinen Antrieb mehr nach all dem Chaos, in das sie uns hineingezogen hatte. Wir brauchten auch kein Geld, und den Schneid hatte man uns schon vor langer Zeit abgekauft. Anstatt neue Abenteuer an ihrer Seite zu bestehen, bereiteten wir langsam unseren Absprung vor.
    In der Woche nach dem Tod ihres Bruders rief mich Rosario um drei Uhr morgens an. Ich war schon eine Weile auf der Suche nach ihr gewesen, deshalb störte es mich nicht, dass

Weitere Kostenlose Bücher