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Herz der Finsternis

Titel: Herz der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Conrad
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|5| I
    Die
Nellie
, eine Hochseejacht, drehte sich ohne ein Flattern der Segel um den Anker und lag still. Die Flut hatte eingesetzt, es wehte
     kaum ein Wind und auf dem Weg flußabwärts blieb nichts anderes zu tun, als beizudrehen und den Wechsel der Gezeiten abzuwarten.
    Der Unterlauf der Themse streckte sich vor uns aus wie der Anfang einer endlosen Wasserstraße. Draußen auf der offenen See
     verschmolzen Himmel und Meer fugenlos miteinander, und in dem leuchtenden Raum schienen die gegerbten Segel der mit der Flut
     herauftreibenden Boote in Trauben roten Tuchs stillzustehen, scharfe Spitzen getupft vom Gefunkel der lackierten Spriete.
     Dunst hing über den niedrigen Ufern, die zum Meer hin flach ausliefen und verschwanden. Über Gravesend war die Luft finster,
     und noch weiter oben schien sie sich zu einem trostlosen Schatten zu verdichten, der reglos über der größten – und großartigsten
     – Stadt der Erde brütete.
    Der Director of Companies war unser Kapitän und unser Gastgeber. Wir anderen vier betrachteten voll Zuneigung seinen Rücken,
     während er am Bug stand und seewärts blickte. Auf dem ganzen Fluß war nichts, das auch nur halb so seemännisch wirkte wie
     er. Er glich einem Lotsen, für jeden Seemann die Personifizierung der Zuverlässigkeit. Es war schwer zu glauben, daß seine
     Arbeit nicht dort draußen in der leuchtenden Mündung war, sondern hinter ihm, inmitten des brütenden Schattens.
    Uns verband, wie ich schon einmal gesagt habe, die See. Ihr Band einte unsere Herzen selbst über längere Trennungszeiten |6| und hatte außerdem den Effekt, uns nachsichtig zu machen gegen eines jeden Hirngespinsten – ja, sogar Überzeugungen. Der Anwalt,
     der beste aller Kameraden, hatte wegen seines hohen Alters und seiner vielen Tugenden das einzige Kissen an Bord und lag auf
     der einzigen Decke. Der Buchhalter hatte bereits einen Dominokasten hervorgeholt und spielte mit den Steinen Architekt. Marlow
     saß mit übereinandergeschlagenen Beinen rechts achtern gegen den Besanmast gelehnt. Seine Wangen waren eingefallen, das Gesicht
     war gelb, der Rücken gerade, seine ganze Erscheinung asketisch, und mit den herabhängenden Armen und nach vorn geöffneten
     Handflächen sah er aus wie ein Götzenbild. Nachdem sich der Director überzeugt hatte, daß der Anker griff, kam er nach achtern
     und setzte sich zu uns. Träge wechselten wir ein paar Worte. Dann senkte sich Schweigen über das Deck der Jacht. Aus irgendeinem
     Grund begannen wir nicht mit dem Dominospiel. Wir wollten unseren Gedanken nachhängen und fühlten uns zu nichts anderem in
     der Lage, als friedlich vor uns hinzustarren. Der Tag neigte sich in stiller, anmutiger Klarheit. Das Wasser glitzerte friedlich;
     der Himmel, ohne das kleinste Stäubchen, war eine gütige Unendlichkeit unbefleckten Lichts; selbst der Nebel über den Marschen
     von Essex war wie zartes, lichtes Gewebe, das von den bewaldeten Höhen im Inneren herabfiel und die niederen Ufer in durchscheinende
     Falten hüllte. Nur der Schatten im Westen, der stromaufwärts brütete, wurde von Minute zu Minute dunkler, als wäre er über
     den Vorstoß der Sonne erzürnt.
    Und schließlich, am Ende ihres gekrümmten, unmerklichen Niedergangs angelangt, sank die Sonne, ihr weißes Glühen wich einem
     fahlen Rot, ohne Strahlen und ohne Hitze, als wollte sie plötzlich ganz erlöschen, erschlagen von der Berührung mit jenem
     Schatten, der über einem Haufen Menschen brütete.
    |7| Nun aber zog eine Veränderung über das Wasser herauf, und die Klarheit wurde weniger strahlend, dafür tiefer. Der alte Fluß
     ruhte zur Tagesneige unerschüttert in seinem breiten Bett, nachdem er jahrhundertelang dem Geschlecht, das seine Ufer bevölkerte,
     gute Dienste getan hatte, ausgestreckt in der gelassenen Hoheit einer Wasserstraße, die bis an die äußersten Enden der Erde
     führte. Wir betrachteten diesen ehrwürdigen Strom nicht in der lebhaften Glut eines kurzen Tages, der kommt und für immer
     vergeht, sondern im erlauchten Licht bleibender Erinnerungen. Und wirklich, einem Mann, der, wie es heißt, dem »Ruf der See«
     voll Ehrfurcht und Hingabe gefolgt ist, fällt nichts leichter, als auf dem unteren Lauf der Themse den großen Geist der Vergangenheit
     zu beschwören. Der Gezeitenstrom kommt und geht in unablässigem Dienst, beladen mit den Erinnerungen an die Männer und Schiffe,
     die er in den Schoß der Heimat gebracht hat oder hinaus zu den Schlachten auf

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