Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Scherenfrau

Die Scherenfrau

Titel: Die Scherenfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorge Franco
Vom Netzwerk:
Freunde, die sich gegenseitig ihr Leben offenbarten, um sich zu zeigen, wie sie waren. Zwei Freunde, die, und das merke ich erst heute, nicht ohne einander leben konnten und die vom vielen Zusammensein einander unentbehrlich geworden waren. Weil sie sich als Freunde so sehr mochten, wollte einer zu viel. Mehr, als eine Freundschaft verträgt. Denn um eine Freundschaft aufrechtzuerhalten, ist alles erlaubt, außer sie zu verraten, indem man die Liebe ins Spiel bringt.
    »Kumpel«, sagte Rosario immer zu mir. »Mein Kumpel.«
    In den gemeinsamen Jahren sind nur zwei Dinge ungeklärt geblieben: die Frage, die sie mir nicht beantwortete. Und was mit uns geschehen wäre, wenn Emilio nicht zwischen uns gestanden hätte. Jetzt denke ich manchmal, dass das vielleicht gar nichts geändert hätte. Ich sage das wegen dieser absurden Manie der Frauen, sich nicht mit dem Mann, den sie lieben, zusammenzutun, sondern mit irgendeinem, der ihnen gerade in den Kram passt.
    »Du gefällst Rosario«, beharrte Emilio.
    »Red keinen Blödsinn«, beharrte ich.
    »Es ist schon seltsam.«
    »Was ist seltsam?«
    »Dass sie mich nicht so anschaut, wie sie dich anschaut.«

3
     
    Ein Bewohner von weiter oben, vom äußersten Rand des Viertels, war das erste Opfer von Rosario Tijeras. Ihm verdankte sie ihren Spitznamen, und durch ihn begriff sie, dass sie sich allein verteidigen konnte, ohne die Hilfe von Johnefe oder Ferney. Durch ihn begriff sie auch, dass das Leben seine dunkle Seite hatte und dass die für sie bestimmt war.
    »Ich war an dem Tag ins Zentrum hinuntergegangen, um mir von den Fleppen, die mir Johnefe zugesteckt hatte, ein paar Klamotten zu kaufen. Gloria begleitete mich bei meinem Einkaufsbummel. Auf dem Rückweg ging sie als Erste nach Hause, weil sie ‘n Stückchen weiter unten wohnte, und ich lief allein weiter. Man hörte ja ‘ne Menge Geschichten, aber ich hatte nie Angst, allein durch diese Straßen zu laufen. Ich hätte nie gedacht, dass sie mir auf die Pelle rücken würden, wo ich doch die Schwester von Johnefe war. Aber als ich schon fast daheim war, kamen mir von oben zwei Typen entgegen. Sie gehörten zu der Bande von Mario Malo, einem Kerl, dem alle aus dem Weg gingen, außer Johnefe. Deswegen dachte ich gar nicht daran, dass die mir auf die Pelle rücken würden, aber an diesem Abend taten sies. Es war ziemlich dunkel, und ich erkannte nur den einen: Er wurde Cachi genannt. Den anderen konnte ich nicht genau erkennen. Die beiden zerrten mich in einen Graben, während ich schrie und um mich schlug, aber du weißt ja, je mehr man in dieser Gegend schreit, desto verschreckter sind die Leute und desto besser schließen sie hinter sich ab. Die Sache lief so, dass sie erst aus meinem Kleid Müll machten und dann aus mir Müll machten. Der eine umklammerte mich und hielt mir den Mund zu, während Cachi tat, was er nun mal tat. Als der andere dran war, konnte ich schreien, weil er mich losließ, um sich in Stellung zu bringen, und ein paar Leute hörten mich und schauten zu uns herunter. Aber diese beiden Arschlöcher rannten durch den Graben auf und davon. Kannst dir ja vorstellen, wie ich bei meinem Bruder ankam. Sah aus wie ‘n Häufchen Elend und heulte wie verrückt. Er drehte völlig durch, als er mich sah. Er fragte mich, was mit mir passiert war und wer mir das angetan hatte, damit er das Schwein umbringen konnte. Aber ich verriet nichts. Ich wusste, dass es die Jungs von Mario Malo gewesen waren und dass das einen brutalen Krieg geben würde, wenn ich den Mund aufmachte. Die waren sehr wohl dazu in der Lage, Johnefe umzubringen. Aber er ließ nicht locker, sagte, dass er mich umbringen würde, wenn ich es ihm nicht erzählte, und ich sagte zu ihm, dass er mich doch umbringen solle, weil ich nämlich nichts gesehen hätte, und dass es vielleicht Leute von der anderen Seite waren.«
    Rosario unterbrach ihre Geschichte und starrte auf einen Punkt auf dem Tisch. Ich blickte in die andere Richtung, weil ich nicht so recht wusste, wo ich hinschauen sollte. Dann sah ich, wie sie mit den Schultern zuckte und mich anlächelte.
    »Und dann?«, wagte ich zu fragen.
    »Dann? Nichts. Mir gings noch ‘ne ganze Weile ziemlich beschissen. Außerdem redete Johnefe nicht mit mir. Er war wütend, weil ich nicht damit herausrückte, wer es gewesen war. Aber ich wollte nicht, dass ihm etwas zustieß. Es reichte schon, was mit mir passiert war. Johnefe erfuhr allerdings nie, dass ich mich später dafür rächen konnte. Stell dir

Weitere Kostenlose Bücher