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Die Scherenfrau

Die Scherenfrau

Titel: Die Scherenfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorge Franco
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sie mich weckte.
    »Wo bist du?«, fragte ich sie, kaum dass ich ihre Stimme erkannte.
    »Heute ist das Begräbnis von Johnefe«, erzählte sie mir.
    »Wie das? Das war doch schon vor acht Tagen.«
    »Wir waren mit ihm unterwegs.«
    »Was wart ihr?«, fragte ich überrascht.
    »Erzähl ich dir später, ich kann jetzt nicht lange sprechen«, sagte sie und senkte die Stimme. »Hör mal, Schätzchen, ich werd für ‘n paar Tage die Stadt verlassen. Ich ruf dich an, wenn ich wieder zurück bin.«
    »Was bedeutet das, Rosario? Wohin gehst du?«
    »Mach dir um mich keine Sorgen, ich ruf dich wieder an. Aber erzähl Emilio, dass ich meine Mutter nach … nach Bogota begleiten musste, wo sie eine Schwester hat.«
    »Rosario! Warte, sag mir, was los ist.«
    »Ciao, Schätzchen. Ich erzähl dir später alles«, sagte sie und legte auf.
    Natürlich begriff Emilio noch weniger als ich. Er verlor die Fassung, wenn sie sich ihm entzog. Rosarios Geheimnistuerei brachte ihn auf die Palme. Jedes Mal, wenn so etwas geschah, und das war nicht eben selten, schwor er mir, Schluss zu machen. Aber sie wusste, wie sie ihn besänftigen konnte. Sie ließ seine Tiraden über sich ergehen, und später im Bett sorgte sie dann dafür, dass er den Verstand verlor.
    »Es macht mich wirklich rasend, dass sie mich nie um Rat fragt!«, sagte Emilio wütend. »Als wäre ich gar nicht vorhanden!«
    »Sie hat mich doch angerufen und gebeten, dir alles zu erzählen«, versuchte ich sie zu verteidigen.
    »Das ist sowieso das Komischste von allem!«
    »Was denn?«
    »Dass sie dich anruft und nicht mich!«
    Emilio hatte Recht. Doch besaß er nicht die Geduld, um Rosario ernsthaft zu verstehen. Vielleicht gewöhnte er sich sofort daran, weil er mit ihr zusammen war. Ich hingegen musste sie mir vorstellen. Ich beobachtete jeden Schritt, um ihr nahe zu sein, ich beobachtete sie vorsichtig, um bloß keine Dummheit zu machen. Ich lernte, dass man sie nur nach und nach gewinnen konnte, und nachdem ich sie eingehend einer stillen Prüfung unterzogen hatte, gelang es mir, sie zu verstehen, an sie heranzukommen, wie es zuvor noch keiner getan hatte, eine ganz eigene Beziehung zu ihr zu haben. Aber ich begriff auch, dass Rosario ihre Hingabe auf zwei verteilt hatte: Für mich war ihre Seele bestimmt und für Emilio ihr Körper. Was ich noch immer nicht herausgefunden habe, ist, wem von uns beiden es dabei besser ergangen ist.
    Einen Monat nach dem Anruf tauchte Rosario wieder auf. Sie war dick. Sie war nicht dieselbe, die ich auf den Hügeln zurückgelassen hatte. Etwas in ihrem Gesicht machte einem Angst, es ließ mich die finsteren Wolken erahnen, die sich am Horizont zusammenbrauten. Sie bestellte mich in die Fressmeile eines Einkaufszentrums in der Nähe ihres Apartments. Ich traf sie an, als sie gerade ein paar Pommes und ein Malzbier verschlang. Sie trug eine dunkle Brille und einen Trainingsanzug. Ihr Anblick erschütterte mich. Sie war aufgeputschter denn je.
    »Was ist los, Rosario?«, fragte ich sie, nachdem ich sie begrüßt hatte.
    »Möchtest du Pommes?«
    »Ich möchte, dass du mir erzählst, was mit dir los ist.«
    »Bestell mir noch ‘n Malz, Kumpel. Ich hab kein Geld mehr.«
    Es war nicht leicht, ihr etwas zu entlocken, außer man flößte ihr fünf Schnäpse ein. Aber ich war nicht in der Gemütsverfassung darauf zu warten, dass sie den Mund aufmachte.
    »Emilio wird dich umbringen«, sagte ich zu ihr. »Diesmal ist er wirklich wütend auf dich. Er will dich nicht einmal sehen.«
    »Dann soll er meinetwegen zur Hölle fahren!«, explodierte sie. »Ich will ihn auch nicht sehen!«
    »Darum geht es nicht, Rosario. Wir haben uns Sorgen gemacht. Du verduftest von einem Tag auf den anderen, und dann tauchst du so wieder auf.«
    »Was meinst du mit ›so‹?«, fragte sie herausfordernd.
    »Ich will ehrlich sein, Rosario, du siehst ganz schön komisch aus.«
    »Was ist komisch an mir? Hä? Sag schon, was ist komisch?«
    Wer weiß, was passiert wäre, wenn ich ihr geantwortet hätte. Meine Bemerkung genügte, dass sie mit einer Armbewegung alles vom Tisch schob. Danach erhob sie sich wütend und funkelte alle an, die herüberschauten.
    »Is was?! Habt ihr was verloren, oder was?! Seht zu, dass ihr Land gewinnt, ihr Arschlöcher!«
    Sie gehorchten alle. Es wurde so still, dass man hören konnte, wie sich ihre wütenden Schritte entfernten. Die anderen schauten mich verstohlen an. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, aber ich war erst recht ratlos, als ich

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