Die Scherenfrau
aufstand und sah, dass Rosario zurückkam. Sie stellte sich dicht vor mich hin, und obwohl sie versuchte, ihre Stimme zu dämpfen, konnte sie es nicht vermeiden, mich anzuschreien.
»Wozu sind Freunde denn da, du Arschloch?! Wozu?« Durch ihre Brille hindurch sah ich, dass sie weinte. »Wenn ich nicht einmal mehr auf dich zählen kann, auf wen dann! Einen Dreck bist du wert! Ich hab dich nicht angerufen, damit du mich fertig machst und mir erzählst, ich sei dick.«
»Ich hab überhaupt nicht gesagt, dass du dick bist«, warf ich ein.
»Aber man konnte dir ansehen, dass du es gern getan hättest! Und ich werd noch dicker, weil ihr mir nichts mehr bedeutet. Nicht du, nicht Emilio, niemand mehr, hörst du? Ich pfeif auf euch alle! Den Einzigen, der mir etwas bedeutet hat, den haben sie umgebracht, und dir wars egal.«
Wut und Schluchzer verhinderten, dass sie weiterredete. Zitternd stand sie da, erstickt an ihren eigenen Worten. Ich hatte das Bedürfnis, sie zu umarmen, sie unter Küssen an mich zu reißen, ihr zu sagen, dass alles, was sie betraf, mir wichtig war, wichtiger als mein Leben, ich wollte gemeinsam mit ihr weinen, wegen ihrer Wut, ihrer Traurigkeit und wegen meines Schweigens.
»Natürlich bist du mir wichtig, Rosario«, war das Einzige, was ich herausbrachte. Und obwohl ich als Erster daran gedacht hatte, war sie es, die mich umarmte.
5
»Heirate mich, Rosario«, schlug Emilio ihr vor.
»Spinnst du, oder was?«, erwiderte sie ihm.
»Wieso? Was ist daran so komisch? Wir lieben uns doch.«
»Und was hat die Liebe bitteschön mit der Ehe zu tun?«
Ich war erleichtert, als ich von ihrer Ablehnung erfuhr. Emilio hatte mir von seinen Absichten erzählt, aber ich sagte nichts dazu. Erstens kannte ich Rosario, und zweitens war der Vorschlag eher eine Trotzreaktion von Emilio als ein Liebesbeweis. Die Familie setzte ihn mächtig unter Druck, damit er Rosario verließ. Sie schränkten seine Geldmittel und Privilegien ein und fingen an, ihn wie einen Verbrecher zu behandeln.
»Stell dir vor, meine Mutter schließt seit neuestem alles ab«, erzählte er mir. »Echt merkwürdig. Fehlt nur noch, dass sie ein Schloss ans Telefon hängt und mich für die Anrufe zahlen l ässt.«
Was mich allerdings aufhorchen ließ, war Rosarios Antwort auf Emilios Antrag. Sie machte ihn auf das Missverhältnis zwischen der Verbindung von Liebe und Ehe aufmerksam. Ich stellte fest, dass sich hinter ihrer Schönheit und Gewalttätigkeit eine eigene Meinung, dazu noch eine vernünftige, verbarg. Alles, was ich an ihr entdeckte, nährte meine Liebe zu ihr, und je länger ich sie liebte, desto unerreichbarer wurde sie für mich.
»Also, was ist?«, fragte ich Emilio. »Heiratest du nun, ja oder nein?«
»Von wegen«, antwortete er. »Diese Frau kommt mir ziemlich schräg. Außerdem, mit welchem Geld? Siehst du nicht, dass man mir zu Hause nicht mal mehr Guten Tag sagt.«
»Wie kommts?«
»Es ist meine Mama, die kocht ihr eigenes Süppchen.«
Emilios Familie gehört zur kreolischen Monarchie, beladen mit Traditionen und Standesdünkeln. Sie gehören zu der Sorte von Leuten, die sich nie irgendwo anstellen, weil sie glauben, dass sie es nicht nötig haben. Sie bezahlen auch niemanden, weil sie glauben, dass ihnen ihr Name Kreditwürdigkeit gibt. Sie reden Englisch, weil sie glauben, dass ihnen das mehr Klasse verleiht, und sie mögen die Vereinigten Staaten lieber als ihr eigenes Land. Emilio hat immer versucht, gegen diese Muster aufzubegehren. Er ließ sich aus dem zweisprachigen Gymnasium rauswerfen und wechselte auf eines, auf dem sämtliche Faulpelze landeten. Er wollte gern an die staatliche Universität, doch davon hielt ihn nicht seine Familie ab, sondern der Notendurchschnitt. Und dann, um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, schleppte er Rosario bei ihnen an.
»Man merkt, dass sie keine Klasse hat«, kommentierte Emilios Mama an dem Tag, an dem sie Rosario kennen lernte. »Sie weiß ja nicht einmal, wie man isst.«
Obwohl mich jede Art von Ablehnung gegenüber Rosario aufbrachte, war ich im Falle von Emilios Familie hocherfreut. Trotz seines Ungehorsams wagte er es nie, ihnen durch eine andere Verbindung als die mit Rosario die Stirn zu bieten. Und wie es beinahe immer geschieht, gewann schließlich die Konvention.
Nach Rosario kehrte Emilio geschickt in seine alten Bahnen zurück. Jetzt verdient er gut, arbeitet mit seinem Vater zusammen, wählt seine Worte mit Bedacht und hat eine Freundin, die außer ihm alle
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