Die Schicksalsgabe
den alten Majordomus, der mit seinen Reisebündeln über einen von Säulen umstandenen Korridor schlurfte. »Erasmus!«, rief sie.
Er fuhr zusammen. »Huch? Ist da ein Geist?« Und dann, als sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten: »Ah, die junge Herrin! Den Göttern sei Lob und Dank, dass du am Leben bist. Aber du kannst hier nicht bleiben. Man hat mir befohlen, das Haus für die neuen Besitzer herzurichten, und jetzt muss auch ich gehen.«
»Wo ist meine Mutter?«
»Fort«, kam es mit belegter Stimme traurig zurück. »Sie und alle anderen haben Rom vor Tagen verlassen. Hals über Kopf. Sie waren in der Stadt nicht mehr sicher.«
»
Wohin
sind sie gegangen?«, bestürmte Ulrika den Alten.
Magere Schultern hoben und senkten sich. »Die Herrin hat mir aber einen Brief für dich gegeben, für den Fall, dass du dich hier blicken lässt.« Er griff in eine der vielen verborgenen Taschen seiner farbenprächtigen Robe und zog eine mit einem roten Band umwickelte Schriftrolle hervor. Er machte Anstalten, sich zu entfernen, hielt aber nochmals inne, kramte erneut in den Taschen seines Gewandes, bis er eine zweite Schriftrolle gefunden hatte. »Hier ist noch eine. Leb wohl. Und gib auf dich Acht, Herrin, denn für die Freunde von Claudius – möge er im Jenseits Frieden finden – sind gefahrvolle Zeiten angebrochen.«
An der einen Rolle erkannte Ulrika das Wachssiegel der Mutter, die andere gab ihr zu denken. Wer sonst noch mochte ihr einen Brief geschrieben haben? Als sie nach einem Siegel auf der Rolle forschte, entdeckte sie einen getrockneten Fleck darauf. So als hätte jemand geweint und eine Träne wäre auf den Papyrus getropft und hätte einen sternförmigen Fleck hinterlassen …
Sie erschrak. Der Brief stammte von ihr selbst, war vor Monaten verfasst worden! »Warte!«, rief sie und eilte dem alten Mann nach. »Warum hast du mir meinen Brief zurückgegeben?« Aber der Alte war bereits entschwunden.
Sie besah sich nochmals ihr Schreiben, stellte fest, dass es nicht geöffnet worden war. Und dass der alte Mann es aus derselben Tasche gezogen hatte, in der er es an dem Tag, da sie Rom verließ, verstaut hatte.
Meine Mutter hat diesen Brief nie zu Gesicht bekommen.
Im Schein der Lampe nahm sie sich den Brief der Mutter vor.
»Liebste Tochter, ich schreibe dies in Eile nieder, weil wir fliehen müssen. Wohin ich gehe, steht noch nicht fest. Die gesamte Familie ist bei mir. Da ich nicht weiß, ob meine politischen Feinde sich auch gegen dich wenden, dürftest du in Rom nicht mehr sicher sein. Durch die Gnade der Göttin werden wir uns vielleicht eines Tages wiedersehen. Ich bete, liebste Tochter, die du mir in der Stunde höchster Not in Liebe geschenkt wurdest, dass du findest, was du suchst. Es tut mir leid, dass du meintest, Rom verlassen zu müssen, ohne mir Lebewohl zu sagen oder mir ein paar Zeilen zu schreiben. Aber ich habe Verständnis dafür. Bitte vergiss nicht, dass du zur Hälfte eine Römerin bist, verachte nicht dein römisches Blut, denn wie dein Vater Wulf bin auch ich ein Teil von dir.«
Eine Bö stob auf, Mondlicht fiel auf trockenes Laub, das auf Pflastersteinen raschelte. Während ich mich auf die Suche nach meinem Vater begeben habe, habe ich meine Mutter verloren, sinnierte Ulrika.
Sie dachte an das letzte Zusammentreffen mit ihrer Mutter, an den Streit zwischen ihnen und wie sie auf dem Absatz kehrtgemacht hatte und aus dem Zimmer gestürmt war, ohne die Mutter ausreden zu lassen.
Das ist die letzte Erinnerung meiner Mutter an mich!
, sagte sie sich, die Mutter hat mein Schreiben, in dem ich mich entschuldige und sie meiner Liebe versichere, nie erhalten.
Ein Schluchzen stieg in ihr auf, Tränen tropften auf den Brief der Mutter, benetzten schwarze Tinte, verwischten Worte wie »Verachte nicht dein römisches Blut …«
Gedankenverloren betrachtete sie das tanzende Laub, das von der kühlen Nachtluft über den Boden des Atriums gewirbelt wurde, und versuchte darüber nachzudenken, was sie als Nächstes tun sollte. Ihre Mutter suchen? Ihre früheren Freunde? Sie überlegte kurz, Sebastianus um Hilfe zu bitten, sah dann aber ein, dass sie ihn wegen ihrer Beziehung zu Paulina und wegen dieses von der Regierung konfiszierten Hauses nur in Gefahr bringen würde.
Eins jedenfalls stand fest: Hierbleiben konnte sie nicht.
Als sie von der Bank aufstand, auf der sie Platz genommen hatte, hörte sie Schritte. Sie wirbelte herum und sah gegen das Mondlicht die Silhouette
Weitere Kostenlose Bücher