Die Schicksalsgabe
ergründen – hasste er weder seine Mutter noch Frauen im Allgemeinen. Der selbsternannte Frauenverächter liebte und verehrte sie sogar.
Wenn sie seine Verehrung nur erwidern würden …
Dabei hatte es vor langer Zeit eine gegeben, die nicht nur freundlich zu ihm gewesen war, sondern ihm das Leben gerettet hatte …
»Primo! Primo!« Ein junger Sklave kam ins Atrium gelaufen, in dem ein Dutzend Fackeln die Nacht erhellten. »Der Tross ist eingetroffen! Der Herr ist in der Stadt!«
Primo eilte durch das Atrium, durch den Vorgarten, durch das Tor und auf die schmale, von den hohen Mauern der Privathäuser gesäumte Straße. In die Dunkelheit spähend – in diesem Teil der Stadt gab es nur vereinzelt Straßenlampen – erinnerte er sich daran, wie er als ausgemusterter Legionär vor acht Jahren hier auf dieser Straße an jedem Tor angeklopft und um Arbeit nachgefragt hatte, um seine magere Pension aufzubessern.
Er hatte seinem Kaiser und dem Reich bis zum Ablauf der fünfundzwanzig Dienstjahre ehrenvoll gedient, und anders als die meisten Veteranen, die fortan in Tavernen Kriegserlebnisse gegen Bier zum Besten gaben, hatte er sich nach einem zusätzlichen Broterwerb umgeschaut.
Aber was hatte er schon zu bieten gehabt? Viele Legionäre durchliefen neben der normalen Ausbildung zum Soldaten eine Schulung zu »Spezialisten«, wurden nebenbei Handwerker und Zimmerleute, wussten mit Verwundeten umzugehen oder unterwiesen andere in der Handhabung von Waffen. Für solche Männer gab es nach Beendigung ihrer Dienstzeit Angebote in Hülle und Fülle.
Primo hingegen war ein einfacher Fußsoldat gewesen. Alles, was er zu bieten hatte, waren Kraft und Muskeln, die ihm das harte Soldatenleben im Übermaß hatten angedeihen lassen. Auf dem Marsch durch unwirtliches Gelände war ein Fußsoldat ausgerüstet mit einem Schild, einem Helm, zwei Wurfspeeren, einem kurzen Schwert, einem Dolch, einem Ersatzpaar schwerer Sandalen, Marschgepäck mit Proviant für vierzehn Tage, einem Wasserschlauch, Kochgeschirr, Pfählen zum Errichten von Palisaden sowie einer Schaufel oder einem Weidenkorb. Es gab nichts, was Primo der Veteran nicht mit Leichtigkeit zu bewegen oder zu heben imstande war.
Dennoch waren ihm auf der Suche nach einer ehrbaren Anstellung die Tore vor der Nase zugeknallt worden – bis er zum Haus des Kaufmanns und Händlers Sebastianus Gallus gelangte. Der Sklave am Tor gab sich mürrisch und schroff, der Verwalter zeigte sich in einer verdreckten Tunika. Essensreste lagen auf dem Boden herum, ungesittetes Gelächter drang aus Küche und Wäschekammer, überall im Haus tobten Hunde und Katzen herum. Als Primo den Namen des Hausbesitzers erfuhr, der mit einer Karawane unterwegs war, hatte er ein Pferd gemietet und war dem Tross entgegengeritten. Kaum hatte der junge Sebastianus Gallus vernommen, welches Chaos bei ihm zu Hause herrschte, ritt er mit Primo los und überrumpelte durch sein vorzeitiges Erscheinen seinen Verwalter und die Dienerschaft. Dabei stellte sich heraus, dass das Anwesen reichlich verwahrlost war. Und da Primo beteuerte,
er
werde auch während der Abwesenheit von Sebastianus für Ordnung und Sauberkeit sorgen, wurde er auf der Stelle als Oberster Verwalter eingesetzt. Im Laufe der Jahre war zu diesem Amt auch das des Leibwächters hinzugekommen, des Kutschers sowie des Administrators für sämtliche Belange des Haushalts.
Als er jetzt die kleine Gruppe die Straße heraufkommen sah und hörte, wie Timonides sich lauthals über irgendetwas beschwerte, kratzte sich Primo am Hintern und spuckte auf den Boden. Timonides und diesen Tölpel von einem Sohn mochte er nicht. Den griechischen Astrologen mit seinen Aufzeichnungen und Instrumenten fand er überheblich. Wie die meisten Soldaten konnte Primo weder lesen noch mehrere Summen zusammenzählen, weshalb er für Männer mit höherer Bildung nur Verachtung übrig hatte. Außerdem erboste ihn, dass Timonides behauptete, im Universum herrsche Ordnung, alles geschehe aus einem bestimmten Grund, und man könne sein Schicksal steuern, wenn man sich danach richte, was einem die Sterne sagten. Primo wusste es besser. Nichts geschah aus einem bestimmten Grund, das Universum war ein Chaos, und sein Schicksal zu steuern war ein Ding der Unmöglichkeit. Für ihn war alles im Leben zufällig und ungeplant. Und das Leben nach dem Tod, von dem Timonides faselte, hatte nichts mit
diesem
Leben zu tun, warum sich also den Kopf darüber zerbrechen?
Als er in ihrer
Weitere Kostenlose Bücher