Die Schicksalsgabe
Onkeln und Vettern diese Empfehlungsschreiben auszuhändigen, dann werden sie dir jede erdenkliche Hilfe zukommen lassen! Wie auf den Flügeln des Windes getragen wirst du dich wähnen auf deiner Reise nach China, mein Freund! Die Götter werden dich auf ihre Schultern nehmen, wie eine Taube wirst du fliegen!«
Timonides, der sich unweit am Lagerfeuer aufhielt, an dem sein pfannkuchengesichtiger Sohn Nestor ein Schmorgericht aus Lamm und Gemüse überwachte, lauschte verbittert dem Gespräch zwischen seinem Herrn und dem Babylonier. Er allein wusste, dass sich Sebastianus’ Karawane nach China keineswegs wie der Flug einer Taube gestalten würde, lag sie doch auf einem Weg, auf dem Fallstricke, Verrat und Rückschläge lauerten, die für normale Sterbliche nicht zu erahnen und auch nicht mit bloßem Auge zu erkennen waren. Einzig Timonides wusste um die Gefahren, die vor ihnen lagen, denn nur er hatte beim Studium der Konstellation der Sterne das Unheil gesehen, das seiner harrte.
Und alles war seine Schuld, die des Astrologen Timonides! Er konnte nicht davon ablassen, die Horoskope seines Herrn zu verfälschen, sondern musste immer weiter lügen, musste dafür sorgen, dass Sebastianus gen Osten zog, um zu verhindern, dass Nestor hingerichtet wurde. Die Empörung und das Geschrei aus Antiochia waren noch nicht bis Babylon gedrungen, aber man konnte sich darauf verlassen, dass die Nachrichtenübermittlung entlang des Euphrats rasch und wirkungsvoll vonstatten ging. Ein Wort von einem Magistrat an einen anderen, und schon pochten die Wachen der Stadt an alle Türen, schauten unter jeden Teppich, kippten jedes mannshohe Gefäß um auf der Suche nach dem Mörder von Bessas, diesem so sehr verehrten Heiligen.
Timonides war so elend zumute, dass er fast nichts essen konnte.
Die Sterne trogen nicht. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sollte sich Sebastianus eigentlich irgendwo südlich von Antiochia aufhalten, vielleicht in Petra. Irgendwo, nur nicht hier! Stattdessen drängte Timonides als Übersetzer des Willens der Götter seinen Herrn immer mehr nach Osten, häufte eine Schmähung der Götter auf die andere, zu Lasten seiner eigenen unsterblichen Seele. Denn es bestand kein Zweifel, dass er für derart frevelhaftes Tun in der Hölle landen würde. Noch schlimmer war, dass Sebastianus, weil Nestor in seiner Karawane verblieben war, unwissentlich zum Mitschuldigen an einem Schwerverbrechen wurde, weil er einem Flüchtigen Unterschlupf gewährte. Auch ihn würde man hinrichten, sollte man ihnen auf die Schliche kommen und sollten sie geschnappt werden.
Wenn sie nur endlich aufbrechen würden! Timonides hatte angeregt, heute, gleich jetzt gen Osten loszuziehen, keine kostbare Zeit zu verlieren, aber Sebastianus hatte ja nur dieses Mädchen im Kopf! Ulrika! Sie war wie eine heimtückische Krankheit, die Sebastianus unter die Haut gefahren war und juckte. Es war nicht zu übersehen, wie sein Herr jeden Abend nach Westen schaute, dass er seine Arbeit unterbrach, versonnen in die Ferne blickte und ganz offensichtlich an diese junge Frau mit dem hellen Haar dachte, die ihn verhext hatte. Timonides war schon drauf und dran gewesen zu behaupten, die Sterne bestünden auf einem unverzüglichen Aufbruch, aber das wäre ein Frevel zu viel gewesen. Wo immer er ehrlich sein konnte, würde er es sein. Und warum sollte er seinen Herrn auf die Probe stellen? Was wäre, wenn er Sebastianus sagte, die Götter befürworteten den sofortigen Aufbruch, und sein Herr lehnte ab, weil er auf Ulrika warten wollte?
Was alles noch schlimmer machte, war, dass Sebastianus diesem Mädchen zuliebe die erste Etappe ihrer weiteren Reise abzuändern gedachte. Er hatte sich überall nach Shalamandar erkundigt, aber niemand hatte je davon gehört. Und nur weil Ulrika behauptet hatte, Shalamandar liege in Persien, hatte Sebastianus erklärt, er wolle zunächst nach Norden ziehen und sie zu dem ihr bestimmten Ziel begleiten, und erst im Anschluss daran nach China!
Seufzend und in Übereinstimmung mit den Philosophen, denen zufolge man nicht lieben und gleichzeitig weise sein konnte, beugte sich Timonides wieder über seine Aufzeichnungen und Instrumente für das mittägliche Horoskop. Als er die Sterne seines Herrn unter Berücksichtigung des Kometen, der in Sebastianus’ Mittagshaus aufgetaucht war, sowie der unerwarteten Sternschnuppe, die den Mars gestreift hatte, neu berechnete, erschrak er bis ins Mark.
Nicht das …
Wie ungerecht das Leben doch war!
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