Die Schicksalsgabe
Auf ewig dazu bestimmt, die Sterne für andere zu deuten, hatte Timonides der Astrologe, der als Säugling auf einem Haufen Unrat abgelegt worden war, doch immer die Hoffnung gehegt, dass die Götter eines Tages ihrem demütigen Diener die Sterne seiner eigenen Geburt enthüllen würden. Schon deshalb hatte sich Timonides bemüht, sein astrologisches Wirken nach bestem Wissen und Gewissen zu praktizieren.
Aber die Götter waren launisch. Sie spielten mit ihm, quälten ihn. Schürten in ihm leise Hoffnungen, nur um sie wieder zunichte zu machen.
Das Mädchen hielt sich in Babylon auf.
Es gab keinen Zweifel. Das Horoskop von Sebastianus hatte sich verändert. Die beiden Liebenden würden sich in Kürze wieder begegnen.
Deshalb und trotz gegenteiliger Schwüre musste Timonides eine weitere Deutung fälschen. Er konnte nicht zulassen, dass sich Ulrika erneut der Karawane anschloss. Nestor hatte sich auf der Reise von Antiochia bis Babylon und während ihres Aufenthalts hier in Babylon brav und unauffällig verhalten. Wenn Ulrika wieder auftauchte, ließ sich der Junge bestimmt eine weitere Riesendummheit einfallen, um ihr eine Freude zu bereiten.
Timonides musste seinen Sohn beschützen, selbst wenn er dadurch einen weiteren Frevel gegen die Sterne beging und auch das Schicksal seines Herrn eigenmächtig von dem Pfad weglenkte, den das Horoskop wies.
»Meister!«, rief er und stand von seinem Tisch auf. »Ich habe sie endlich gefunden. Die Sterne haben Ulrikas Aufenthaltsort preisgegeben.«
Sebastianus strahlte ihn derart erwartungsvoll an, dass Timonides befürchtete, ihm müsse übel werden. Er schluckte den galligen Geschmack hinunter, der in seine Kehle aufstieg, und sagte: »Sie ist in Jerusalem. Bei ihrer Mutter und ihrer Familie.«
»Bist du dir sicher?«, kam es zweifelnd und nicht länger strahlend zurück.
»Die Sterne lügen nicht, Herr. Selbst wenn das Mädchen heute Jerusalem verlässt, dürfte sie erst in einigen Wochen Babylon erreichen. Allerdings steht in ihren Sternen nichts von einer Reise in naher Zukunft. Sie
bleibt
vorläufig in Jerusalem.«
Die Enttäuschung, die sich auf Sebastianus’ Gesicht abzeichnete, traf den alten Mann mitten ins Herz. Er liebte den jungen Gallus fast ebenso wie seinen Sohn Nestor. Im Stillen sein Leben verfluchend, dazu Rom, Babylon, die Götter und sogar die Sterne, sagte er: »Da ist noch etwas. Der Komet letzte Nacht und die Sternschnuppe, die den Mars streifte, sind Hinweise darauf, dass wir unverzüglich aufbrechen sollen. Wir dürfen keinen Tag länger in dieser Stadt verweilen. Das ist von äußerster Wichtigkeit, Meister.«
»Aber bis zur Sommersonnenwende sind es noch mehrere Tage!«
»Meister, bei einem Aufschub wird größtes Unheil über die Karawane hereinbrechen. Der günstigste Tag für den Aufbruch ist
heute.
Die Götter lassen keinen Zweifel daran.«
Mit finsterer Miene sann Sebastianus über eine Entscheidung nach.
Während seines Aufenthalts in Babylon hatte er jedwede Möglichkeit genutzt, um Informationen über China zusammenzutragen. Verschwindend wenig war in Erfahrung zu bringen gewesen. Waren aus jenem so weit entfernten Land kamen nie auf direktem Wege in diesen Teil der Welt, sondern über Zwischenhändler. Ein Ballen chinesischer Seide konnte gut und gern durch die Hand von zwanzig Kaufleuten gehen, ehe sie auf dem Markt in Babylon auftauchte. Gleiches galt für Informationen. Vor allem Ortsbezeichnungen wurden häufig bei der Weitergabe verstümmelt, so dass jeder, mit dem Sebastianus sprach, oder jede Landkarte, die er studierte, unterschiedliche Namen für Städte und geographische Gegebenheiten aufwies.
Der Name der Stadt, in der Chinas Kaiser residierte, schien jedoch ein allgemein gültiger Begriff zu sein. Sebastianus hatte endlich ein fest umrissenes Ziel vor Augen, auf das er sich morgens und abends wie auf einen Fixstern konzentrierte.
»Also gut«, sagte er widerstrebend. »Wo ist Primo? Timonides, schick jemanden in die Stadt, um ihn herzuholen.«
»Gewiss doch, Meister«, sagte Timonides erleichtert. In der nächsten Stadt, im nächsten Tal oder Gebirge, wenn sie weit genug von der Bedrohung durch Ulrikas Gegenwart entfernt wären, würde er so vielen Göttern wie nur möglich Opfer darbringen, bußfertig und zur Selbstverleugnung bereit, würde sich, wenn es denn sein musste, Fasten und Keuschheit auferlegen – alles, was in seiner Macht stand, würde er tun, um wieder die Gnade der Götter zu erlangen.
»Sorge
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