Die Schicksalsgabe
namenloses Dorf gezogen. Sein Zenturio hatte ihn vorausgeschickt, um den Hufschmied des Ortes ausfindig zu machen. Das Frühjahr war angebrochen, der blaue Himmel war mit flauschig weißen Wölkchen gesprenkelt, die Luft duftete nach Blumen, der Wind wehte frisch und verheißungsvoll. Er war in eine Gasse gelangt, wo er sich plötzlich von mehreren wütenden Männern umringt sah, die Prügel und Dolche trugen und Anstalten machten, sie einzusetzen.
Da im ganzen Reich, vor allem in den jüngst eroberten Regionen, römische Soldaten verhasst waren, war Primo auf derartige Zornesausbrüche Einheimischer gefasst. Ohne lange zu überlegen, stürzten sie los und sahen die Sinnlosigkeit ihres Tuns erst ein, wenn sie ans Kreuz geschlagen wurden. Kurz hatte Primo überlegt, sie vor ihrem Vorhaben, ihn anzugreifen, zu warnen – auch wenn sie in der Überzahl waren –, als eine junge Frau auftauchte. »Haltet ein!«, rief sie, worauf die Männer des Dorfes tatsächlich von dem Soldaten abließen.
Als sie näherkam, sah Primo, dass sie einen Säugling an ihre Brust drückte. Ihr Haupt war verschleiert, nicht aber ihre feinen Gesichtszüge.
»Das hier geht dich nichts an, Tochter des Zebadiah«, murrte einer. »Das ist Männersache.«
»Und ist es Männersache, Ehefrauen zu Witwen zu machen und ihre Kinder zu Waisen? Ihr solltet euch schämen!«
»Rom ist unerträglich!«, rief ein anderer, und schon wollten sie wieder auf Primo losgehen.
Sie aber stellte sich vor ihn, so dass er den Duft ihres verschleierten Haars einatmen konnte. »Dieser Soldat ist nicht Rom. Er ist nur ein Mann. Geht jetzt nach Hause, ehe es zu spät für uns alle ist.«
Sie traten von einer Stelle auf die andere. Umspannten ihre Knüppel. Schauten sich gegenseitig und dann den schlafenden Säugling in ihren Armen an, machten schließlich kehrt und verzogen sich.
»Du kannst nichts dafür, Römer«, wandte sich die junge Frau Primo zu. »Du erfüllst nur deine Pflicht. Ziehe in Frieden.«
Und Primo der Soldat, dessen Herz so groß und so hart war wie ein Pflasterstein, stand da wie vom Blitz getroffen.
Als sei sie eine Erscheinung, so sah er ihr nach, dieser schlanken Gestalt in dem langen blauen Schleier, und es war ihm, als wäre alles um ihn herum zum Stillstand gekommen und er und diese junge Mutter wären die Einzigen auf der Welt. Sie hatte ihn nicht angelächelt, ihn aber auch nicht wegen seines unschönen Gesichts mit einem abschätzigen Blick bedacht, sondern ganz einfach angeschaut, und er hatte hinreißende Züge gesehen, eine sanfte Stimme gehört …
Selbst wenn er jetzt wieder daran dachte, wurde Primo von Gefühlen überwältigt. Sie hatte sich für ihn eingesetzt, auch wenn sie es getan hatte, um ihre Nachbarn vor Roms unbarmherziger Bestrafung zu bewahren, die allen drohte, die ihren neuen Herren den Gehorsam verweigerten. Sie hatte ihn mit ihren braunen Augen angesehen und ihm gesagt, es sei nicht seine Schuld. In diesem Augenblick hatte er sich verliebt, unwiderruflich und bedingungslos. Und er hatte auch gewusst, dass er sein Leben lang keine andere so verehren würde wie diese junge Frau.
Ein abscheulicher Gestank stieg ihm urplötzlich in die Nase und riss ihn aus seinen nostalgischen Träumen. Angewidert schaute er in die Richtung, aus der dieser penetrante Geruch kam, und sah an den Stadtmauern verwesende Leichen hängen. Den meisten hatte man die Hände oder die Genitalien abgehackt, was darauf hinwies, dass es sich entweder um Diebe handelte oder um Vergewaltiger. Urteile wurden in Babylon in Windeseile vollzogen. Einem Dieb hackte man nicht nur die Hand ab, sondern hängte ihn anschließend kopfüber auf und ließ ihn sterben. Was Tage dauern konnte. Primo fand diese Art von Bestrafung übertrieben, war der Bestohlene doch höchstwahrscheinlich ein reicher Mann gewesen. Handelte es sich um einen armem Schlucker, ließ man den Vorfall sowieso fast immer auf sich beruhen.
So war es nun mal um die Gerechtigkeit in der Welt bestellt, in der die Reichen das Sagen hatten.
Und in der Welt eines Kaisers.
»Du wirst jeden Schritt von Gallus überwachen«, hatte der junge Nero damals im Nebenzimmer des Kaiserlichen Audienzsaals gesagt. »Du wirst dir jedes seiner Worte einprägen, beobachten, wie er sich und Rom ausländischen Potentaten gegenüber präsentiert. Wir können keinen Botschafter dulden, der seine eigenen Interessen in den Vordergrund rückt. Du wirst mir über jeden Vorgang und jedes Gespräch berichten, das
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