Die Schicksalsgabe
staatsgefährdend oder verräterisch sein könnte.«
Die Erinnerung an jenen Abend machte Primo so unwirsch, dass sich sein Gesicht noch grotesker verzerrte, als es bereits war. Gewiss, er würde den Befehl ausführen, aber gern kam er ihm nicht nach.
»Herr!«, brüllte jemand am Ende der Straße. Es war ein Sklave, der zu der Karawane gehörte. Außer Atem, weil er so schnell gerannt war, keuchte er: »Du sollst sofort kommen. Die Karawane bricht noch heute auf.«
Zunächst verdutzt, dann im Stillen beipflichtend, dass es dafür auch allmählich Zeit wurde, eilte Primo in Richtung des Enlil-Tors.
Während Sebastianus noch einmal Kamele und Pferde inspizierte, letzte Anweisungen gab, Männern aufmunternd auf den Rücken klopfte und sagte, dass ein großes Abenteuer auf sie warte, führte Timonides ein hastiges Gespräch mit dem Betreiber des Sammelplatzes, den Sebastianus kurz zuvor aufgesucht hatte, um ihm, wie Timonides wusste, einen Brief für Ulrika anzuvertrauen. Das war nun mal nicht zu verhindern. Timonides wusste aber auch, dass Sebastianus dem Betreiber des Sammelplatzes noch eigens eingeschärft hatte, einer jungen Frau mit hellem Haar, die sich nach der Gallus-Karawane erkundigte, auszurichten, sie seien einen Tag vor der Sommersonnenwende aufgebrochen und gedächten, bis zum nächsten Vollmond in Basra zu bleiben, um dann die alte nördliche Route nach Samarkand einzuschlagen. Für seine Bemühungen hatte er dem Mann eine Silbermünze gegeben.
Jetzt versah Timonides den Betreiber des Sammelplatzes mit einer neuen Nachricht, für die er ihm, damit er sie ja nicht vergaß auszurichten, eine Goldmünze zusteckte. Er kam gerade noch rechtzeitig zur Karawane zurück, um auf seinen Esel zu steigen und Sebastianus, der bereits auf seinem Pferd saß, das Zeichen zu geben, dass er bereit zum Aufbruch war.
Mit einem letzten Blick zurück nach Westen und in Gedanken bei einem Mädchen mit hellbraunem Haar und blauen Augen, für das er den Schutz der Götter erflehte, setzte sich Sebastianus in seinem Sattel zurecht und richtete den Blick nach vorn, nach Osten, wo Berge und Flüsse und Wüsten seiner harrten.
Und eine sagenhafte Stadt – Luoyang.
Die Marduk-Prozession schien kein Ende zu nehmen. Ulrika wurde allmählich so ungeduldig, dass sie am liebsten vom Karren gestiegen und zu Fuß zum Sammelplatz der Karawanen geeilt wäre. Da sich aber niemand zu rühren wagte, wenn sich die höchste Gottheit Babylons in der Öffentlichkeit zeigte, musste sie notgedrungen warten.
Endlich waren die letzten Trommler und Priester und Soldaten zu Pferde vorbeigezogen. Mit der Peitsche trieb der Flachskaufmann seine Esel zu einem zügigen Trott an. Am weitläufigen Sammelplatz der Karawanen, auf dem sich Männer und Tiere drängten und wo Zelte und Berge von Waren kaum ein Durchkommen ermöglichten, begab sich Ulrika geradewegs zum Zelt des Betreibers des Platzes, um ihn nach dem Lager der Gallus-Karawane zu befragen.
Er rümpfte seine Knollennase. »Die Gallus-Karawane? Die ist vor mehr als einem Monat aufgebrochen. Längst weg.« Gallus hatte ihm eine silberne Münze gegeben, um dem Mädchen die Wahrheit zu sagen. Der Grieche hingegen hatte dafür, dass er den Aufbruch einen Monat zurückdatierte, eine
Goldmünze
springen lassen! Für so viel Geld hätte er sogar gesagt, sie wären vor einem Jahr losgezogen! »Und das ist für dich«, fügte er hinzu und händigte Ulrika eine kleine Schriftrolle aus.
Sie öffnete sie auf der Stelle. Es war ein Brief von Sebastianus, auf Lateinisch geschrieben. »Meine liebste Ulrika, die Sterne haben bestimmt, dass wir frühzeitig aufbrechen. Ich verlasse Babylon schweren Herzens, hatte ich doch gehofft, Dich auf dieser Reise in das sagenhafte Unbekannte an meiner Seite zu wissen. Aber ich ziehe auch freudig meines Weges, weil alles dafür spricht, dass in absehbarer Zeit der Traum meines Lebens in Erfüllung geht – das ferne China zu besuchen. Ich bewahre Dich in meinem Herzen, Ulrika. In Gedanken und in meinen Träumen bist Du immer bei mir. Und wenn ich vor dem Thron des Kaisers von China stehe, wirst Du an meiner Seite sein. Ich hoffe inständig, meine Liebste, dass Du diesen Brief erhältst und dass Du in Babylon auf mich wartest.«
»Weißt du, welche Route die Karawane eingeschlagen hat?«, fragte sie mit Tränen in den Augen.
Der Mann runzelte die Stirn. Gallus hatte genaue Anweisungen erteilt, aber die Goldmünze rechtfertigte sicherlich auch eine weitere
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