Die Schicksalsgabe
entfernt von ihrer beabsichtigten Route. »Wohin willst du eigentlich mit uns?«
Da er nicht antwortete, setzte sie hinzu: »Du hättest mich nicht zu entführen brauchen. Du hättest mich einfach fragen können, ob ich mitkomme.«
Zu ihrer Überraschung richtete er seine schwarzen Augen auf sie, und es hörte sich ehrlich an, als er sagte: »Das tut mir leid. Ich hatte Angst, Veeda würde sterben. Um Hilfe zu holen, wollte ich keine Zeit verlieren. In dieser Gebirgsregion sind wir ungemein stammesbewusst. Wir bewachen unsere Schätze und Reichtümer, begegnen Angehörigen anderer Stämme mit Misstrauen. Rivalität bestimmt unser Leben. Ich wusste nicht, woher du kamst. Du hättest mir meine Bitte ja auch abschlagen können. Und was hätte ich dann gemacht?«
»Wie lange beabsichtigst du, mich bei euch zu behalten?«
»Morgen kannst du deiner Wege ziehen. Ich werde dir Proviant mitgeben und eine Waffe und dir sagen, wie du in die Stadt der Geister kommst.«
»Und was wird aus dir und Veeda?«
»Wir ziehen weiter nach Osten.«
Erneut sammelte Iskander Zweige und Laub und traf Vorbereitungen für ein Feuer, ohne es anschließend zu entfachen. Er betete über den Kienspänen, neben die er unter leisem Singen das elfenbeinerne Horn legte. Schließlich hockte er sich auf die Fersen und sagte: »Ich bin auf der Suche nach Angehörigen meines Stammes. Wo sie sich aufhalten, weiß ich nicht. Gut möglich, dass sie nach Osten geflohen sind. Du hast gesagt, du bist auf der Suche nach einem gewissen Magus, der Fragen beantworten kann. Meinst du, er könnte auch mir helfen?«
Ulrika überdachte ihre Situation und die Umstände. Obwohl sie einem Mann, der sie entführt hatte, nicht rückhaltlos vertraute, konnte sie sich in diesem Gebirge leicht verirren, weshalb es wohl vernünftiger war, wenn Iskander bei ihr blieb.
»Er lebt in der Stadt der Geister. Weißt du, wo das ist?«
Wieder gab es zum Essen rohen Fisch, außerdem Nüsse und Beeren. Iskander kaute bedächtig, ehe er antwortete: »Ja, ich kann uns dort hinführen.«
Ulrika seufzte erleichtert auf. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern, bis sie dem Prinzen, der vor langer Zeit ihrer Mutter geholfen hatte, gegenübertreten konnte. Sie würde ihn bitten, sie nach Shalamandar zu bringen, wo sie den ihr von ihrem Schicksal vorgezeichneten Pfad ganz von vorn beschreiten würde und auf dem sie, wie sie hoffte, mit Sebastianus nach seiner Rückkehr aus China zusammentreffen, ihn lieben und für den Rest ihres Lebens mit ihm zusammenbleiben würde.
In der Nacht hörten sie ein dumpfes Geräusch. Ulrika fuhr hoch, aber Iskander legte eine Hand auf ihren Arm. »Wir sind in Sicherheit. Die Fallen funktionieren. Diese Männer werden uns nicht behelligen.«
Sie warf einen Blick hinüber zu Veeda, die friedlich schlummerte. Sie hatte kein Fieber mehr, und ihre Wunde heilte bereits ab. Weil aber Iskander verhindern wollte, dass sie ihr Bein mehr als nötig belastete, trug er sie weiterhin auf dem Rücken. Sie war ja auch nicht schwer. Mit ihren vierzehn Jahren begann sie gerade erst, sich zur Frau zu entwickeln. Trotz ihrer bereits knospenden Brüste war sie knabenhaft schlank. Das wunderschöne schwarze Haar trug sie offen, hatte aber Ulrika erklärt, dass sie es ab dem Zeitpunkt ihrer Heirat entsprechend den Gepflogenheiten ihres Stamms hochstecken und unter einem Tuch verbergen würde; einzig und allein ihr Ehemann bekäme es dann noch zu sehen. Merkwürdig war, wie Veeda gekleidet war: Sie trug Beinkleider und etwas, was Ulrika noch nie gesehen hatte – ein vom Hals bis zur Taille eng anliegendes Gewand mit langen Ärmeln, das vorn von einer langen Reihe winziger runder, durch Schlitze geschobener Knochensplitter verschlossen war. Veeda bezeichnete das Kleidungsstück als »Jacke« und die Schließleiste als »Knöpfe«. Ein Gewand, das vielleicht eher dem eines Mannes entsprach, dennoch stand es Veeda ausgezeichnet und schien für ein Leben in den Bergen ungemein praktisch zu sein.
Veeda wiederum war in ihrer Neugier nicht zu bremsen, so viel wie möglich über Bräuche und Gepflogenheiten aus Ulrikas Welt zu erfahren. Wenn sie endlich schlief, nicht ohne vor sich hin zu wimmern und nicht ohne dass Tränen aus ihren geschlossenen Augen flossen, fragte sich Ulrika, welch geheimer Kummer das junge Mädchen so quälte.
»Was ist, wenn es den Verfolgern gelingt, die Fallen zu umgehen?«, wollte Ulrika jetzt wissen.
»Dann werden sie uns umbringen, uns alle drei.
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