Die Schicksalsleserin
einmal seinen Oberkörper richtig anheben. »Miro!«, rief sie verzweifelt. »Miro! Fass mit an!« Der Bärenführer bekreuzigte sich mit bleichem Gesicht und rührte sich nicht von der Stelle. »Erisbert, wo ist der?« Doch Miro antwortete nicht einmal.
Über ihnen krachte die Kanone erneut, und Männer machten sich an der Verriegelung des Tores zu schaffen. Wo blieb Scheck? Mit einem Blick über die Schulter erkannte Madelin durch das Chaos der Menschen hindurch, dass es dem Spielmann im Eingang zur Turmtreppe gelungen war, sich aus dem Griff des Söldners zu winden, denn er eilte nun zu ihnen herüber. Dann hörte sie schon das Stadttor in den Angeln quietschen und begriff, dass Scheck es nicht mehr rechtzeitig vor den Reitern über die Straße schaffen würde.
»Beiseite!«, rief jemand. Die ersten Pferde passierten bereits das Tor.
Madelin fuhr herum. Neben ihr stand ein junger Mann mit fast weißblondem Haar und griff nach Franziskus’ Schultern. Sie machte Platz, denn die ersten Reiter waren nur noch wenige Galoppsprünge entfernt. Der Mann hob Franziskus hoch - die Krämpfe machten seinen Körper so steif wie ein Brett -, schloss die Arme um seinen Brustkorb und schleifte ihn in Windeseile rückwärts von der Straße. Dabei keuchte er vor Anstrengung. Madelin griff sich flink Franziskus’ Beine. Aus den Augenwinkeln sah sie ein Pferd auf sich zugaloppieren. Franziskus zuckte und drehte sich, doch sie hielt eisern fest und duckte sich, so schnell sie konnte, an das eigene Pferd, das noch immer vor dem Karren angespannt war. Dann trampelten die ersten Tiere den Schlamm der Straße neben ihnen auf. Sie hatten es geschafft. Sorgsam legten Madelin und der Fremde den Freund im Schutz der Karren ab. »Seid bloß vorsichtig,
dass er …« Ein Arm von Franziskus traf den Mann auf die Wange, noch während Madelin ihren Satz vollendete: »… Euch nicht aus Versehen erwischt.«
»Autsch«, machte der Mann und hielt sich mit der Linken das Gesicht.
»Tut mir aufrichtig leid«, sagte Madelin. »Er weiß nicht, was er tut. Aber wenn Ihr nicht eingegriffen hättet …«, sie verstummte. Hastig zog sie den Beißriemen aus der Tasche, die sie vorhin an sich genommen hatte und noch immer um den Leib trug, und versorgte den Freund, wie sie es inzwischen gewohnt war.
»Es ist ja nichts passiert«, erwiderte der Mann. Als ihre Blicke sich trafen, fuhr er sich, noch ganz außer Atem, mit der freien Rechten durch das frech abstehende blonde Haar. Er konnte höchstens ein paar Jahre älter als Madelin sein - vielleicht zwei- oder dreiundzwanzig, schätzte sie. Seine wachen blauen Augen betrachteten sie aufmerksam.
Jetzt, da auch sie ihn musterte, fiel ihr auf, dass er die schwarze Robe der Universität trug, in der Taille gebunden von einem silbernen Gürtel. »Ihr seid ein Physicus?«, fragte sie und konnte einen Anflug von Freude nicht unterdrücken.
»Noch nicht«, antwortete der junge Mann. »Aber ich will mal einer werden.«
Madelin flog der Matsch um die Ohren, als mehr und mehr Reiter an ihnen vorbeigaloppierten, um den Nachzüglern Platz zu machen. Sie stellte sich schützend vor Franziskus.
Der Strom der zurückkehrenden Reiter wurde langsam dünner, und irgendwann wurde das Tor eilig hinter den letzten Pferden geschlossen. Als Madelin sah, in welchem Zustand die Kürassiere waren, schlug sie die Hände vor den Mund. Zu Hardegg selbst war blutverschmiert und von oben bis unten mit Schlamm besudelt. Ein blutender Schnitt klaffte an seiner
linken Wange. Seine Männer waren nicht ganz so gut davongekommen. Manche hielten sich nur mühsam im Sattel, einen Arm eng an den Leib gepresst. Madelin sah blutende Kopfwunden, einem Reiter steckte noch ein abgebrochener Stoßspeer in der Schulter, ein anderer war bleich vor Schmerzen. Ein paar Sättel waren ganz leer.
»Heiliger Herr im Himmel«, murmelte sie.
»Amen«, sagte der Mann neben ihr. »Da hat es manch einen aber schlimm getroffen.« Dann sah er sich unentschlossen um und fragte Madelin: »Braucht dein Freund noch Hilfe? Was ist eigentlich los mit ihm?«
»Normalerweise geht es ihm bald besser«, sagte sie. »Was er genau hat, weiß ich nicht. Aber wenn Ihr an der Universität studiert …« Doch bevor sie ihn fragen konnte, ob er ihr zu helfen wusste, fiel er ihr ins Wort.
»Dann schaue ich nach den Verwundeten!«, sagte er und eilte schon davon. Im Gehen drehte er sich noch einmal zu ihr um. »Ich heiße Lucas! Lucas …« Madelin verstand den Nachnamen
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