Die Schicksalsleserin
nicht, denn ein Mann in ihrer Nähe schrie auf. Lucas lächelte ihr ein letztes Mal zu, seine Augen blitzten trotz der verheerenden Situation fröhlich. Dann wandte er sich ab und lief davon.
Da kam endlich Scheck zu ihnen gelaufen. »Geht es Franzl gut?«, fragte er atemlos.
»Ich denke schon«, erwiderte Madelin. Jetzt erst begriff sie, wie knapp ihr lieber Freund eben dem Tode entronnen war. »Auch wenn Miro ihn auf der Straße hätte sterben lassen!« Sie warf dem Bärenführer einen bösen Blick zu.
»Er … sein Gesicht«, stammelte Miro und bekreuzigte sich erneut. »Es sah aus, als wolle der Leibhaftige aus seinem Gesicht hervorbrechen!«
»Und deshalb hast du dir gedacht, du lässt ihn besser liegen?«, fragte sie ungläubig.
»Aber … sein Gesicht!«, wiederholte Miro hilflos, als wäre das Erklärung genug.
Offenbar hatte der Gefährte sich gar nichts gedacht, sondern war vor Schreck erstarrt. Kaum zu glauben, dass ein so kräftiger Mann wie Miro, der den Ringkampf mit einem Bären einging, ein solcher Angsthase sein konnte. Madelin seufzte. »Schon gut.«
Immerhin war alles gut ausgegangen, tröstete sie sich. Sie hatten die Mauern von Wien erreicht. Und sie hatte einen Medizinstudenten gefunden. Lucas - vielleicht könnte er herausfinden, was Franziskus plagte. Ihr fiel auf, dass sie ihm ihren Namen gar nicht genannt hatte.
Oben auf den Wehrgängen der Mauer jubelten derweilen die Söldner. Offenbar hatten die Kanonen den Feind verjagt - fürs Erste zumindest.
Scheck drückte sie kurz. »Die Osmanen sind geflohen, sobald die ersten Schüsse fielen. Es waren zwar sicher eintausend Reiter, aber offenbar haben sie sich nur an die Reiterei herangetraut, nicht an die Wälle.«
»Das heißt, das war gar kein richtiger Angriff?«, fragte Madelin.
»Nein, von dem, was ich von den Söldnern mitbekommen habe, ist das bloß eine Vorhut, die die Dummheit der Kürassiere genutzt hat. Hardeggs Reiterei hat sich einfach zu weit hinausgewagt.«
»Ich fand diese Vorhut schon schlimm genug«, erwiderte sie.
»Madelin«, sagte Scheck plötzlich und zog sich halb auf den Bock des Karrens neben ihm, um besser sehen zu können. »Siehst du das Banner?«
Auch Madelin betrachtete nun die Kürassiere, die in lockerer Reihe die Straße bis fast vor das Stubentor füllten und mit
den Flüchtlingen dazwischen für ein heilloses Chaos sorgten. »Nein.«
»Sie haben sich nicht nur in eine Falle locken lassen, sondern haben dabei auch noch das Banner verloren«, erkannte der Spielmann und schüttelte ungläubig den Kopf.
»Und den Mann, der es trug«, fügte die junge Frau hinzu. Sie erinnerte sich an den schneidigen Reiter auf dem Schimmel. »So schnell kann’s gehen«, murmelte sie. »Gerade noch hier, ein Schlag, schon steht man vor dem lieben Herrgott.«
»Oder vor dem anderen«, sagte Scheck finster und deutete mit dem Daumen auf den Boden.
»Bitte rede nicht so, Scheck.« Madelin wollte vom Satan nichts hören. Nicht, während Franziskus sich hinter ihr noch stöhnend in Krämpfen wand, deren Ursprung sie nicht kannte. Sie schloss die Augen und betete, dass der Anfall bald vorbeiging. Immerhin, sie hatten endlich den Schutz der Mauern erreicht.
KAPITEL 2
L ucas sah noch einmal über die Schulter zurück zu der bedrückt wirkenden jungen Frau. Ihr Begleiter lag noch immer auf dem Boden und schlug wild um sich. Die Grimassen, die er dabei zog, jagten dem Studenten einen Schauer ein.
Er hatte ein schlechtes Gewissen, die beiden einfach so zurückzulassen, doch im Augenblick fiel ihm nichts ein, wie er dem Mann hätte helfen können. Er kannte sich mit solchen Anfällen einfach zu wenig aus. Anders war es bei den Verwundeten, die mit Graf zu Hardegg aus der Schlacht zurückgekehrt waren. Dort konnte er vielleicht einem Magister beistehen, dem einen oder anderen Reiter noch das Leben zu retten. Lucas hatte der jungen Frau zum Abschied zwar noch ein aufmunterndes Lächeln geschenkt, doch zu spät fiel ihm jetzt auf, dass er gar nicht wusste, wie sie hieß.
Lucas überquerte die Straße, wo ihn auf der anderen Seite sein Freund Heinrich mit einem Schlag auf die Schulter begrüßte. In der Linken trug er eine Tasche mit Instrumenten. »Warum hast du da eingegriffen?«, fragte er. »Einen Moment später, und die Pferde hätten dich glatt totgetrampelt!«
»Ich weiß es nicht«, gestand Lucas. »Ich konnte ihn ja wohl kaum dort liegen lassen, oder?« Er strich seine abgewetzte dunkle Robe glatt, die ihn als
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