Die Schicksalsleserin
Angehörigen der Universität kennzeichnete. Dann rückte er das Cingulum gerade, den Silbergürtel, der sie als Studenten auswies und sie von fertigen Magistern unterschied.
»Also ich konnte es«, schnaubte Heinrich. »Und was hatte
der Kerl? Auf mich wirkte er wie toll, wie er sich da im Schlamm gewälzt hat!«
»Ich weiß es auch nicht. Vielleicht sind es kranke Dämpfe, die von der Galle und den anderen Organen im Bauch hoch ins Gehirn steigen. Sie können dort allerlei Dinge auslösen.«
»Schwermut, habe ich mal irgendwo gelesen. Aber danach sah das nicht gerade aus.«
»Nein, sicher nicht. Aber laut Magister Vilenius verstopfen die Dämpfe die Nerven und schädigen so die Hirnfunktionen«, sagte Lucas. »Es bildet sich noch mehr Feuchtigkeit im Hirn als sonst. Wer weiß, was die alles anrichten kann …«
»Frag dich lieber, was Pferdehufe und Sarazenenschwerter alles anrichten können. Hier geht es derweilen drunter und drüber! Komm, wir schauen, ob wir irgendwo etwas lernen können. Da drüben bringen sie die verletzten Reiter hin.« Heinrich ging ihm voran durch die Menge.
Mit der Ankunft der Kürassiere war das Chaos auf der Straße ausgebrochen. Zwischen den Flüchtlingen strömten die Reiter noch immer in Richtung Innenstadt, an einigen Stellen half man den Ersten aus den Sätteln. Immer wieder drang das Schreien und Stöhnen Verwundeter an ihre Ohren; herrenlose Pferde liefen verstört durch die Menge. Man sah zwei oder drei Knechte des Stadtrichters, die vergeblich versuchten, die Ordnung wiederherzustellen.
Lucas sah sich besorgt um. »Die ganze verdammte Vorstadt ist in Aufruhr.«
»Ist das ein Wunder? Alle sind am Fliehen, bevor die Osmanen sie an ihre Pferde gebunden zu Tode schleifen oder ihre abgeschlagenen Köpfe auf Pfähle stecken. Und dann stößt sich mein Herr Vater an den Osmanen auch noch die Nase blutig. Jetzt werden die Leute erst richtig Angst bekommen«, sagte Heinrich. Sein Vater, Graf zu Hardegg, war der Hauptmann
der österreichischen Reiter in Wien, der soeben den Ausfall angeführt hatte. Die zu Hardeggs gehörten zu den einflussreichsten Familien unterhalb der Enns.
Heinrich ließ seinen Blick über die zurückgekehrten Reiter schweifen, um sich zu orientieren. »Verdammt - sogar der Bannerträger fehlt. Christoph Zedlitz von Gersdorff ist heute zum ersten Mal mit Vater geritten.«
Auch Heinrich trug die Kleidung eines Studenten der Alma Mater Rudolphina, der Wiener Universität, doch seine war von erlesener Qualität - und neu. Heinrich war nicht ganz so groß wie Lucas, aber deutlich kräftiger gebaut. Wo Heinrich Muskeln und breite Fäuste besaß, verfügte Lucas über Sehnen und lange Finger. Heinrich hatte das feine Haar seiner Mutter geerbt. Neben dem Adelssohn wurde Lucas mit seinem Schopf weißblonder Haare oft belächelt, denn er war das, was man einen Studiosus pauperes nannte - ein Bettelstudent, der von der Hand in den Mund lebte.
»Und wenn man den Menschen erzählt, dass es bloß eine Vorhut war?«, fragte Lucas. Sie eilten durch die Menge. »Ob man sie damit wieder beruhigen kann?«
»Du weißt doch, wie die Leute sind«, schnaubte Heinrich abfällig. »Schlechte Nachrichten verbreiten sich im Lauffeuer. Aber gute - gute erfahren sie nie, weil sich nicht so gut darüber klatschen lässt.«
»Und warum sind die Wiener dann nicht bei der ersten Nachricht über die Osmanen geflohen?«, fragte Lucas.
»Habgier. Sie haben Angst vor Plünderern.«
Lucas fand das Urteil des Freundes wie so oft ein wenig kurzsichtig, denn was der eine Habgier nannte, mochten andere als Angst um die eigene Existenz bezeichnen. Fakt war, dass die Wiener erst begriffen hatten, dass ihre Stadt nicht sicher war, seit Erzherzog Ferdinand Ende August mit seiner Familie die
Stadt verlassen und Graf Salm als Oberkommandant der Truppen sie im September betreten hatte. Nur die Vorausschauendsten - oder Ängstlichsten - waren frühzeitig gegangen.
»Wie ist dieser Graf Salm eigentlich so?«, fragte Lucas den Freund. Er sah sich nach Magister Vilenius um.
»Er ist ein Haudegen der alten Schule - er muss bald siebzig sein. Vor vier Jahren hat er den Bauernaufstand im Ennstal niedergeschlagen. Und ich habe gehört, dass er auch in Italien gekämpft und dort den französischen König gefangen gesetzt hat.«
»Dann wäre es ja ein Wunder, wenn sich der Osmanensultan hierhertraut, oder?«, fragte ihn Lucas.
»Salm scheint aber damit zu rechnen. Süleyman ist ziemlich dreist, vor drei
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