Die schlafende Armee
summte. Hartmann drehte sich mit seinem Sessel herum und streckte die Hand aus. Charity rechnete damit, daß er ihn einschalten wurde, aber statt dessen nahm er einen altmodischen Telefonhörer zur Hand und meldete sich mit einem knappen: »Ja?« Er lauschte einen Moment, und sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich mit jedem Wort, das am anderen Ende der Leitung gesprochen wurde. Hartmann selbst sagte nichts, sondern hängte den Hörer nach einer knappen Minute zurück und wandte sich wieder zu Charity um. Als er sie ansah, waren seine Züge so ausdruckslos wie zuvor; das Gesicht eines Geschäftsmannes, der einen Verhandlungspartner musterte, von dem er noch nicht ganz genau wußte, was er von ihm zu halten hatte. »Ich fürchte, wir müssen den Rest unserer Unterhaltung auf später verschieben«, sagte er. »Vielleicht ist es sogar besser so. Ich bin sicher, Sie haben nicht nur eine Menge Antworten für mich, sondern auch eine Menge Fragen an mich. Und ich habe wenig Lust, alles fünfmal erklären zu müssen.« Er stand auf und kam um den Schreibtisch herum; auch Charity erhob sich. »Leutnant Felss wird Ihnen Ihr Quartier zeigen«, sagte Hartmann. »Ich fürchte, es wird nicht sonderlich luxuriös sein, aber doch ein wenig bequemer als das Wrack eines Moroni-Gleiters.«
Kapitel 6
Die Stadt lag wie ein Mosaik aus dunklen, schmutzigen Farben unter ihm. Aus einer Höhe von fast vier Meilen herab betrachtet, waren die Spuren der Zerstörungen kaum noch auszumachen. Der Feuersturm, der über Köln hinweggerast war, hatte jedes Leben und fast jedes Gebäude vernichtet, aber die Grundstruktur, nach der diese Stadt errichtet worden war, war erhalten geblieben. Stone konnte deutlich die Grundrisse der alten Festungsmauer erkennen, die noch aus der Zeit der Römer stammte, und das asymmetrische Muster der Straßen und Alleen, die nachfolgende Generationen erschaffen hatten. Es gehörte nicht einmal viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, daß das Leben dort unten noch immer so pulsierte wie vor fünfundfünfzig Jahren. Daß alles nur ein böser Traum gewesen war, aus dem man nur zu erwachen brauchte, um ihn ungeschehen zu machen. Doch es war kein Alptraum, sondern grausame Wirklichkeit. Die Stadt hatte eine Anzahl neuer, schrecklicher Wunden davongetragen. Die Strahlung der Bomben, die die Gleiter geworfen hatten, war extrem kurzlebig, aber auch extrem hart. In nicht einmal ganz zweiundsiebzig Stunden würde er das Gelände dort unten nur mit einem leichten Schutzanzug bekleidet betreten können; aber im Moment würde jedes Leben, das sich dem verseuchten Gebiet näherte, auf der Stelle erlöschen. Nicht einmal ein so unglaubliches Geschöpf wie der entkommene Megamann, konnte in dieser Hölle länger als einige Sekunden überleben. Er und Captain Laird und die anderen mußten tot sein. Und doch stellte sich der Triumph, auf den er bei diesem Gedanken wartete, nicht ein; nicht einmal ein Gefühl der Sicherheit, jetzt, wo der letzte Zeuge seines Verrates beseitigt war. Er hatte Captain Lairds Tod niemals gewollt. Was er ihr an jenem Abend in seinem Zimmer im höchsten Turm des Shai-Taan von Colorado erzählt hatte, war die Wahrheit gewesen. Er betrachtete Charity Laird so wenig als seine Feindin, wie er sich selbst als Verräter betrachtete. Denn war es wirklich Verrat, wenn er versuchte, einen Kampf zu verhindern, der mit nichts anderem als der völligen Vernichtung seiner Heimatwelt enden konnte? Stone war sich völlig darüber im klaren, daß er der meistgehaßte Mann dieses Planeten war, vielleicht der meistgehaßte Mensch, den es jemals auf dieser Welt gegeben hatte. Aber für ihn war dies der Preis, den er, und nur er allein für das Überleben der menschlichen Rasse zu zahlen hatte. Mochten sie ihn verfluchen. Mochten sie seiner mit Haß gedenken. Was viel wichtiger war und niemand je erfahren würde, das waren die unzähligen Leben, die er gerettet hatte. Die Jahre, die er für diese Welt herausgeschunden hatte, indem er all seinen Einfluß geltend machte, um die Herrscher der Schwarzen Festung am Nordpol davon zu überzeugen, daß sein Volk nützlich war. Sein Blick glitt über die schwarz glitzernde Chitingestalt der Ameise, die neben ihm an den Kontrollen des Gleiters stand und das Fahrzeug reglos in vier Meilen Höhe über der Stadt schweben ließ. Der Anblick bereitete ihm immer noch Unbehagen, und das würde sich niemals ändern, ganz egal, wie viele Jahre seines Lebens er noch in der
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