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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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die Angstattacken.
    Berthold nahm sich ein Buch zur Ablenkung, Stephen Hawkings „Kurze Geschichte der Zeit“. Naturwissenschaften beruhigten ihn. Sie gaben ihm die logische Kontrolle zurück über die irren, wahnwitzigen Gefühle, die ihn so verunsicherten. Oft hatte er die Angst, verrückt zu werden. Mit Wissen und Verstand konnte er das unberechenbar Entsetzliche zurückdrängen und womöglich beherrschen.
    Berthold nahm nie Beruhigungs- oder Schlafmittel. Er wollte selber die Kontrolle über alles behalten. Er trank auch kaum Alkohol aus Angst, die für ihn überlebenswichtige Konzentration zu verlieren. Dennoch wandte sich sein analytischer Verstand jetzt gegen ihn. Er grübelte und überlegte, was in ihm wohl wütete. Er fand die logischsten Erklärungen, die er alsbald wieder als unsinnig verwarf. Stets fand er sich am Ausgangspunkt seiner Überlegungen wieder, ohne einen einzigen Schritt weitergekommen zu sein. Margit gegenüber erwähnte er seine Angst mit keinem Wort. Sie hätte ohnehin kein Verständnis für ihn gehabt. Außerdem hatte sie angekündigt, wenn sie aus Italien zurückgekehrt sein würde, sofort weiter zu ihrer Mutter zu fahren, um dort ein- bis zwei Wochen zu bleiben. Immerhin schrieb sie zuweilen Briefe, stets mit der schlichten Unterschrift: „Margit“. Nicht etwa „ Deine Margit“. Dies wäre viel zu viel Versprechen von Mehr gewesen.
    Warum nur tat er sich diese Beziehung an? Seine Freunde schüttelten insgeheim den Kopf, das wusste er. Seine Mutter machte sich große Sorgen, sein Vater empfand für Margit inzwischen nur noch Verachtung. Vielleicht war es ihre Traurigkeit. Hinter der arroganten, beifallsheischenden, eitlen Fassade verbarg sich ein einsamer Mensch, der im Grunde niemanden an sich heranließ. Berthold hatte sich oft vorgestellt, wie es wäre, einst an ihrem Grab zu stehen, wenn sie das, wovon sie gelegentlich sprach, doch eines Tages in die Tat umgesetzt hätte. Eine tiefe Traurigkeit hatte ihn dabei erfüllt, aber auch eine eigenartige Wärme zu ihr. Nein, er würde sie nicht aufgeben.
    Stephen Hawking erwies sich heute als eine ausgesprochen ungünstige Wahl. Seine Ausführungen über die Endlich-Unendlichkeit des Universums machten Berthold verrückt. Er verbannte es in der hintersten Ecke seines Bücherregals und versuchte es mit einem Asterix-Heft.

    Timothy Carrington war gerade in seligen Schlummer gefallen. Er hatte gerade einen ausgesprochen netten Abend hinter sich mit einem reizenden Mädel namens Claudia, die leider durch nichts dazu zu bewegen gewesen war, noch zu ihm nach Hause zu kommen. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass der Schmerz der Sehnsucht den Reiz schließlich erhöhe und zu schneller Sex ihm ohnehin nicht gefallen hätte. Schließlich suchte er etwas Festes. Er hatte zu Hause noch ein paar Bier gekippt und sich gerade wohlig deren Wirkung überlassen, als sein Telefon klingelte.
    Timothy registrierte dies zunächst im Halbschlaf und diskutierte mit sich, ob er einen Anruf zu so später Stunde unverschämt oder interessant finden sollte. Schließlich siegte seine englische Toleranz, zumal das Klingeln hartnäckig andauerte. Er wälzte sich von seinem Lager. „ Here is Timothy “, sagte er.
    „Tim! Bitte entschuldige, dass ich so spät anrufe. Hier ist Berthold!“
    „Berthold! Nanu. Was treibt dich um zu so später Stunde?“
    Schweres Atmen am Ende der Leitung. „Ich muss einfach mit jemandem reden. Es geht mir beschissen.“
    „Nanu, so schlimm? Lass’ mich raten: Margit?“
    „Eigenartigerweise diesmal nicht. Ich habe Angst.“
    „Angst? Aber wovor?“
    „Das ist es ja. Ich weiß es nicht.“
    „Sag’ schon. Was genau ist los?“
    „Ich kann es nicht sagen. Es überfällt mich einfach. Ich kann keine Ursache feststellen. Meistens geschieht es nachts. Ich wache aus einem Albtraum auf und finde nicht heraus. Es dauert immer eine ganze Weile, bis es vorbei ist.
    Ich hatte das schon einmal, vor etwa sieben Jahren. Damals war es noch schlimmer. Es ist einfach weggegangen damals. Ich dachte, ich wäre es los.“
    „Willst du vorbeikommen?“ fragte Tim. „Vielleicht reden wir mal drüber?“
    „Ich gehe dir doch bestimmt auf die Nerven ...“
    „Klar tust du das! Ich bitte darum!“ sagte Tim.

    Berthold sah verstört und übernächtigt aus, fand Timothy. Er holte zwei gut gekühlte Flaschen Bier aus seiner Küche. Gutes, dunkles bayrisches Doppelbock mit stolzen 7,5%, süffig und ausgesprochen entspannend, besser als jeder

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