Die schlafende Stadt
es, davon gingen alle Sünden weg.“
Berthold starrte in die Ferne. Alles weise Worte. „Warum mache ich das nur so?“ fragte er hilflos.
„Geh’ doch mal zu einem Psychotherapeuten. Kann doch nichts schaden. Ich habe damals auch ein paar Stunden genommen. Das war gar nicht schlecht.“
Bei jedem anderen wäre Berthold jetzt ärgerlich geworden. Tims Meinung respektierte er aber.
„Du hast recht“, gab er zu. „Obwohl, du ja auch etwas hast von einem Therapeuten.“ Er konnte wieder grinsen.
„Das liegt am Bier“, sagte Tim.
Fürchte dich nicht vor den Geistern,
die dich umgeben.
Sie sind dir wohlgesonnen.
Fürchte dich nicht vor den Orten
aus dem Nebel deiner Erinnerung.
Sie sind dein Zuhause.
Fürchte dich nicht vor den Bildern
aus den Tiefen deiner Seele.
Sie sind deine Gabe.
Salomon STEINSALTZ
„ U nd jetzt: Pressen !“
Der Schmerz krallte sich gnadenlos in Paulines Unterleib. Zwischendurch nahm sie den kalten Schweiß auf ihrer Stirn wahr, und das heftige Stolpern ihres Herzens, dem sie seit Jahren nicht mehr traute. Noch mehr, noch intensiver wurde der Schmerz.
„Der Kopf! Der Kopf ist draußen!“
Sie hörte die weiteren Anweisungen wie durch einen Schleier. Tief innen wusste sie, was zu tun war. Gleichzeitig hatte sie Todesangst. Vielleicht ginge ihre Seele in diesem Augenblick aus ihr heraus, endlich hin zu ihrer Mutter, die nicht eines ihrer Enkelkinder hatte erleben dürfen. Alles schien dunkel zu werden. Der Schmerz zerrte sie wieder ins Dasein. Das Baby war schon halb draußen. Eigentlich war es sogar leichter als bei den anderen Vieren. Noch ein letzter Schub.
„Wunderbar! Ein gesundes Mädchen! Ich gratuliere!“
Ein hübsches Kind war es, das jetzt auf ihren Bauch gelegt wurde. Die Erleichterung, dass jetzt nun alles vorbei sei, wollte aber nicht kommen. Zwiegespalten streichelte sie das kleine Köpfchen, das schon erstaunlich viele Haare hatte. Wieder einmal hatte sie es geschafft. Wieder einmal war sie nicht gestorben. Und durch dieses Kind würde es noch viel länger dauern, bis sie es würde tun dürfen.
„Helena Veronika Schwarzkrug, geboren am 08. November 1976, 07:12 Uhr. 3.216 Gramm“ stand in der Geburtsurkunde. Helena, wie Paulines Mutter, genannt Leni.
Viel Zeit hatte Pauline nicht für ihr jüngstes Kind, zumal sie mit vier pubertierenden Kindern ausgesprochen beschäftigt, wenn nicht überfordert war. Außerdem fühlte sie sich ständig krank. Immer häufiger setzte sie sich müde in ihren Sessel. Oft sah sie zornig und bitter auf ihr jüngstes Kind. Ohne Leni wäre ihr Verfall geringer, das stand fest.
Leni wuchs auf wie ein Einzelkind. Ihre beiden Brüder und beiden Schwestern waren so viel älter als sie, dass das neue Schwesterchen zwar interessant war, oft aber eher störte, und auch ihre jüngere Schwester hatte bald Besseres zu tun gehabt, als sich um das neu angekommene kleine Kind zu kümmern; Richard, ihr ältester Bruder, war bei ihrer Geburt sogar bereits achtzehn Jahre alt gewesen und zog fünf Jahre später bereits aus. Eigenartig – ausgerechnet zu ihm hatte sie das beste Verhältnis, und sie litt darunter, ihn nur zwei- bis dreimal im Jahr zu sehen. Er war der Einzige, der genau das in seinem Blick hatte, was sie erfülle, seit ihr Denken und Fühlen begonnen hatte. Farben. Formen. Duft. Geschmack. Besonders der Herbst, in dem sich alles wandelte, der den strahlendsten blauen Himmel bot, den es geben kann, mit den roten, orangefarbenen und gelben Blättern der Bäume, den roten Äpfeln, dem leuchtenden Getreide, dem geheimnisvollen Nebel über den Wiesen, in dem sich die Geister der Wälder versammelten. Wenn es draußen anfing, kalt und ungemütlich zu werden, waren die anderen auch viel öfter da. Besonders Richard war dann öfter zu Hause und nahm sich Zeit. Von Richard stammte der beste Kirschkuchen, den man sich vorstellen konnte, und die knusprigsten Ofenkartoffeln. Durch ihn hatte sie ahnen können, wie es wohl sein mochte, junge Eltern zu haben, die mehr Geduld und mehr Ausdauer hatten. Richard hatte ihr immer wieder Geschichten erzählt von verwunschenen Städten und unbekannten Völkern, von Zwergen, die in der Erde hausten und gewaltige Schätze hüteten, von den Trollen in den Wäldern und Feen in den Hügeln. Von ihm wusste sie, dass die Wolken aus dampfendem Wasser sind, dass Koalabären Eukalyptusblätter fressen und dass Eskimos in Häusern aus Eis leben. Das, was sie in der Kirche, die die Familie jeden Sonntag geschlossen
Weitere Kostenlose Bücher