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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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besuchte, nicht verstand, erklärte er ihr: Erzählungen von Gott, und wie er die Welt erschaffen hat, von einem kleinen Baby in einem Weidenkorb, das von einer ägyptischen Prinzessin aus dem Fluss gezogen wurde, von einem Turm, der bis zum Himmel gebaut werden sollte, was aber aus irgendeinem Grund nicht geklappt hatte und von einem wundersamen Mann, der Leute heilen und Brot vermehren konnte, aber auch schreckliche Sachen von einem Vater, der seinen Sohn schlachten sollte und einem Jungen, der von seinen älteren Brüdern verkauft wurde. Besonders diese Geschichte wollte sie immer wieder hören, und sie gab nicht eher Ruhe, bis der Junge seine Familie am Schluss wiedergefunden hatte. Beeindruckt war sie aber auch, dass er es in der Fremde allein aus eigener Kraft geschafft hatte, anerkannt und mächtig zu werden. Dies erschien ihr als großer Trost.
    Schon früh hatte sie gemerkt, dass ihre Mutter nur wenig belastbar war, häufig über Kopfschmerzen klagte, ständig nervös und fahrig wirkte und ihr so oft zu verstehen gab, wie lästig sie ihr war - ihr erschöpftes Stöhnen, die abwehrenden Handbewegungen, die sie immer machte wenn Leni etwas von ihr wollte. Je weniger Richard zu Hause war, desto einsamer war es dort. Oft weinte Leni sich in den Schlaf, als er gegangen war, bis das Weinen schließlich von selbst aufhörte. Wenn sie aber vor ihrem Zeichenblock saß und ihre kleine Hand wundersame Gestalten auf das Papier zauberte, dann fühlte sie sich auch Richard nahe. Doch es war auch irgendwie mehr. Trotz aller Einsamkeit wusste sie, dass sie mit etwas verbunden war, das anderen verborgen blieb. Sie begann, genau zu beobachten.
    Damit fing sie an, Dinge wirklich zu sehen .
    Auf einmal war sie in der Lage, dieses mit jenem in Verbindung zu bringen, um daraus dann ihre Schlüsse zu ziehen. Und so war mancher Erwachsene, der die Familie besuchte, überrascht, was sie als kleines Kind bereits wusste.
    Als Onkel Jonas die Familie einmal besuchte, zeigte sich Lenis Gabe erstmalig in einem größeren Kreis. Jonas, der jüngere Bruder ihres Vaters, war ein drahtiger, fleißiger Mann, Vater von Lenis drei Cousinen, der mit seinem Handel für historische Baustoffe zu einigem Wohlstand gekommen war. Er, der große Antiquitätenliebhaber, wohnte seit drei Jahren selber in einer Antiquität: einer alten Wassermühle, die er liebevoll hergerichtet hatte, und in deren Umgebung man wundervoll Verstecken spielen konnte. Leni blickte diesmal besonders aufmerksam in Onkel Jonas‘ Gesicht und lauschte seinen Anekdoten und Scherzen, die sie meistens noch nicht verstand.
    Auf einmal sah sie es.
    Hinter Jonas‘ lachendem Gesicht versteckte sich etwas. Ein anderes Gesicht. Für wenige Sekunden konnte sie es deutlich sehen.
    „Warum bist du so traurig?“ fragte sie.
    Die Unterhaltung verstummte. Onkel Jonas schaute zu ihr herunter. Pauline stand nervös auf, und begann, den Tisch abzuräumen.
    „Warum meinst du, dass ich traurig bin?“ fragte Onkel Jonas.
    „Du hast geweint.“
    Onkel Jonas lächelte. „Manchmal ist einem wirklich zum Weinen. Aber du hast dich geirrt.“ Er streichelte Leni über den Kopf.
    Einige Monate später starb Onkel Jonas. Er wurde sechsundvierzig Jahre alt. Die Todesursache war Leberkrebs, der bereits gestreut hatte. Er musste es wohl schon eine Weile gewusst haben, hatte aber, wie alle Schwarzkrugs, sich nichts von dieser „Schwäche“, anmerken lassen. Noch zwei Wochen vor seinem Tod war er regelmäßig in seinem Laden gewesen.

    Leni hatte bereits gelernt, lieb und unauffällig zu sein, um niemandem zu Hause zur Last zu fallen, da passierte es. Irmela, ihre jüngste Schwester, hatte einen schweren Reitunfall; sie fiel vom Pferd, erlitt einen Schädelbruch, musste in die Klinik. Und dort lag sie dann zwei Jahre lang im Koma. Sie alle traf es wie einen Donnerschlag. Leni war damals sechs Jahre alt und die ganze Familie sah in dieser Zeit nicht auf sie, sondern nur auf das sterbende Kind.
    Irmela. Manchmal hasste sie sie dafür, für die ganze Aufmerksamkeit, die Irmela ihr gestohlen hatte. Leni ging alleine zur Schule, ihre Noten wurden mit halbem Auge registriert, ihre Versetzungen beiläufig zur Kenntnis genommen. Es war für Leni oft eine überraschende Erkenntnis, dass Lehrer von ihr begeistert waren und sie lobten. Von zu Hause kannte sie nur das Schweigen zu allem. Auch als Irmela wieder erwachte und das normale Leben einzukehren schien, wachten alle ängstlich über das scheinbar

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