Die schlafende Stadt
Gewiss, es hat schon immer Gestalten dieser Art gegeben. Doch sie waren für jedermann sichtbar, und sie trugen keine Visiere. Seitdem wurden es auch immer mehr. Nach meinem Eindruck dauert diese Entwicklung sogar noch an. Sie schienen plötzlich allgegenwärtig zu sein, gleichzeitig verbargen sie sich zusehends, bis sie scheinbar völlig verschwanden. Dies lag aber daran, dass unser aller Geist sich zusehends vernebelte. Damit veränderte sich unsere Wahrnehmung. Wir dachten uns frei, doch wurden wir mehr beherrscht als je zuvor. Je mehr von ihnen unter uns waren, desto weniger merkten wir es.
Zu dieser Zeit habe ich Harlan die ersten Male gesehen. Zunächst sah man ihn, wenn der Geist nicht allzu betäubt war, an der Spitze von Patrouillen oder jener Gruppen, die dann begannen, Bürger abzuholen. Mit seinem Auftauchen kehrten Düsternis und Dumpfheit ein in unser Dasein. Ich weiß nicht, ob dies ganz allein seine Schuld ist, aber der Zusammenhang war deutlich. Daher fürchte ich ihn, obgleich ich mir den Sinn des Ganzen nicht erklären kann.“
„Die naheliegendste Erklärung wäre, dass in der anderen Welt etwas geschehen ist, das diese Dinge bewirkt“, sagte Grim.
„Vielleicht sind diese gesichtslosen, schwarzgekleideten Wachen Soldaten gewesen!“ meldete sich ein hagerer Mann mit kurzgeschorenem Haar und narbigem Gesicht zu Wort, „Soldaten, die blind gehorchten!“
„Dies muss dann aber eine besondere Art der Gefolgschaft gewesen sein, werter Guntram“, widersprach Udolpho, „nach unserem Wissensstand hat es doch schon immer Soldaten gegeben, ohne dass eine derart unheimliche Gesellschaft hier entstanden wäre. Warum jetzt dies?“
„Auch das werden wir herausfinden!“ sagte Grim.
Er wandte sich an Darius: „Werden Sie uns helfen?“
„Ich kann es gar nicht erwarten“, antwortete Darius wahrheitsgemäß. Er dachte voller Verlangen an die geliebte Frau, die sein ganzes Denken beherrschte.
„Dann lasst uns gehen“, beschloss Grim.
Darius nickte zustimmend. Er war voller Erwartung, und der fehlende Schlaf hatte ihn nicht ermüdet. Alle erhoben sich, um zügig zur Tat zu schreiten. Darius bahnte sich seinen Weg an Grims Seite.
Eine Hand berührte sanft ihn am Arm.
„Wie war es, sich zu lieben?“ fragte Eleonora, die junge Frau mit den schneeweißen Haaren. Sie sah Darius eindringlich in die Augen.
„Erzählen Sie mehr davon!“
Ihr Gesicht war heute viel weicher als sonst. Ihre hellen Augen unter den tiefdunklen Brauen blickten eindringlich und erwartungsvoll.
„Nun ...“
Darius war froh, dass sich dieses Mal die meisten respektvoll wieder zurückzogen. Lediglich Grim, Berenike und Eleonora blieben an seiner Seite.
Der Stuhl wurde sanft wieder nach hinten gekippt und Darius schloss die Augen. Er versuchte, sich auf die gestrige Szene zu konzentrieren.
Eigenartigerweise tauchte ein anderes Bild auf. Wieder war es jener sonnenbeschienene Waldweg, auf dem ein junges Paar entlangging. Sie waren gekleidet wie im Mittelalter. Sie trug ein langes, leinenes Kleid mit geschnürtem Mieder, die wallenden, größtenteils offenen, rötlichblonden Haare waren durch zwei Zöpfe in Form gebracht, die aus zwei vorderen Haarsträhnen geflochten waren, und den Kopf umgaben wie ein natürlicher Reif. Mit ihrem Blumenkranz sah sie aus wie eine Fee aus einer keltischen Sage.
Darius war nun doch fasziniert von ihrer schönen Erscheinung. Jung sah sie aus, als wäre sie erst achtzehn oder neunzehn. Seine Enttäuschung, nicht in jener Wohnung mit den hohen Fenstern gelandet zu sein, wich einer gewissen Neugierde. Es würde schon einen Grund haben, warum ihm diese Szene nun zum zweiten Mal in den Sinn kam.
Noch eindrücklicher aber waren die Züge des jungen Mannes. Sein Gesicht lag durch den breiten Schlapphut etwas im Schatten, aber es lag etwas sehr Vertrautes darin. Auch er war altertümlich gekleidet, doch machte die lederne Kniebundhose, der weite Mantel und vor allem das umgeschnallte Trinkhorn eher den Eindruck, er trage ein Kostüm. Vielleicht kamen die beiden ja von einem Fest?
Als Darius sich so in die Szene vertiefte, löste er sich von seinem Körper. Er entschwebte wieder auf die gleiche Weise wie zuvor. Wieder wurde sein Geist etwas wirr, doch da er den Weg in die andere Welt nun schon einmal gegangen war, war er weniger abgelenkt. Gleichwohl vermochte er nicht zu steuern, wohin es ihn zog. Er ließ sich treiben in jenem Sog, jenen Strudel über dem großen Turm des Schlosses, um auch
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