Die schlafende Stadt
waren eine Qual. Zu seinen Atembeschwerden kam nun auch noch die Übelkeit zurück, die in der Nacht ein wenig abgeklungen war. Hoffentlich wirkte Theresas Magenmittel bald. Sein Gedärm rumorte, seine Galle schmerzte, und sein ganzer Rücken fühlte sich steif und marode an.
Würdevoll schritt er durch die Reihen der Kirchgänger zum Chorgestühl, um dort seinen angestammten Platz einzunehmen. Viele Gesichter beobachteten ihn, teils ehrfürchtig, teils abschätzend, teils verkniffen. Er keuchte. Gleich, wenn sich sein pochendes Herz beruhigt hatte, würde es besser werden.
Die Messe begann, er vermochte nicht, aufzustehen. Das Einatmen wurde zu einer ungeheuren Anstrengung. Seine Magenschmerzen wuchsen ins Ungeheuerliche, sein ganzer Körper erfüllte sich mit bohrender Pein. Plötzlich bekam er Angst. Gewiss, er hatte sein Leben lang geschlemmt und gehurt, hatte auf nichts Rücksicht genommen, sodass sein Arzt ihn mehrfach ermahnt hatte, sich etwas einzuschränken und dem Alkohol und dem fetten Essen weniger zuzusprechen. Aber dass dies nun solche Auswirkungen haben könnte, darauf war er noch nie gekommen. Angst stieg in ihm auf, ein Gefühl, dass er seit über fünfzig Jahren nicht gefühlt hatte, seit seiner Kindheit.
Es war mitten in der Predigt. Die Luft blieb mit einem Mal weg, als drücke der Teufel selbst ihm die Kehle zu. Er röchelte laut und rang nach Luft. Panisch stand er auf und torkelte in den Altarraum, brach dabei die Lehne seines Stuhles ab, die er krampfhaft festgehalten hatte. Seine Zunge fühlte sich plötzlich an wie ein riesenhaftes Reptil, das ihm die ganze Mundhöhle ausfüllte. Er riss sich den Binder vom Hals und sackte in sich zusammen. Dann wurde er von Krämpfen geschüttelt, deren Schmerzen unbeschreiblich waren. Das Feuer der Hölle schien in ihm zu brennen. Sein Schließmuskel versagte und entließ eine warme, ätzende Substanz in seine Beinkleider. Während ihm alles vor Augen verschwamm, sah er noch die entsetzten Gesichter, die auf ihn herunter starrten. Vage erkannte er noch den Pfarrer, der hinzugeeilt war, dann würgte er Unmengen von Schleim aus seinen Innereien hervor. Seine Gliedmaßen zuckten noch einige Male wie bei einem abgestochenen Schwein, bis sich die gnädige Schwärze des Todes über ihn breitete.
Theresa Frauendorffs Miene war unbeweglich wie immer, sie war von den anderen Gläubigen in der Kirche nicht zu unterscheiden. Vielleicht waren es die Mundwinkel in ihrem trotz Jugendlichkeit doch recht harten Gesicht, die einen leisen Triumph verrieten. Doch dies wäre eine böswillige Unterstellung gewesen.
Du machtest mich endlos — so ist dein Belieben.
Dies schwache Gefäß leertest du wieder und wieder
und fülltest es immer mit neuem Leben.
Du trugst diese kleine Rohrflöte
über die Hügel und Täler
und hauchtest durch sie ewig neue Melodien.
Bei dem unsterblichen Druck deiner Hände
verliert mein kleines Herz seine Grenze in Freude
und gebiert unaussprechliche Worte.
Deine unendlichen Gaben empfange ich nur
auf diesen meinen sehr kleinen Händen.
Zeitalter vergehn, und immer gießest du aus,
und immer ist Raum, um erfüllt zu werden.
Rabindranath Tagore, Gitanjali
A ls Darius die gebannten Gesichter wieder um sich wahrnahm, hätte er schreien und weinen mögen zugleich, so enttäuscht war er, dass er zurückgekehrt war. Er hätte ewig verweilen mögen in dieser unaussprechlichen Umarmung, dieser Süße dieses Augenblicks.
Grim schien dies zu bemerken.
„Junger Freund, wir waren besorgt ...“, begann er.
„Besorgt!“
Darius merkte erst jetzt, wie entrüstet er war.
„Sie haben schwer geatmet, daher dachten wir, Sie seien vielleicht in Gefahr ...“
„Ihr habt ja wahrhaftig keine Ahnung!“ stieß Darius hervor.
Grims verständnisloses Gesicht ärgerte ihn noch mehr. Ob Grim jemals Solches erlebt hatte?
Dann wich der Empörung die Enttäuschung. Darunter lag tiefe Sehnsucht.
„Darius! Was haben wir falsch gemacht?“
Darius spürte noch immer die süßen Lippen auf den seinen.
Im nächsten Augenblick war er wach. Hastig sah er an sich hinunter.
Er war vollständig bekleidet.
Schwer atmend sank er in den Sessel zurück. Er schloss die Augen.
„Was hast du gesehen?“ fragte eine weibliche Stimme.
„Ich ... ich habe nicht nur gesehen“, sagte Darius nach einer Weile.
„Ich habe gefühlt. Ich habe gehört, ich habe geschmeckt und gerochen. Ich habe ... gelebt! Ich habe geliebt!“
Die Gesichter sahen sich vielsagend an.
„Es
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