Die schlafende Stadt
war zu schön, als dass ich es beschreiben könnte!“ sagte Darius. „Ich werde das niemals vergessen.“
„Ich wusste, dass er es kann!“ ließ Uriel sich triumphierend vernehmen.
„Ja, er kann es“, sagte Grim nachdenklich, „womöglich sogar besser als wir dachten.“
Nachdenklich strich sein Zeigefinger über die Unterlippe.
Darius schlief schlecht. Der Schlaf hätte verhindert, dass er an sie denken konnte, sie, dieses unglaubliche Geschöpf, in deren Armen er gelegen hatte. Obwohl sie nicht diejenige war, die er ursprünglich gesucht hatte. Dunkel waren ihre Augen gewesen, von einem tiefen, dunklen Braun. Verzückt spielte er jedes Detail nochmals durch, an das er sich erinnern konnte. Selbst der Duft ihres Körpers war ihm noch präsent, und erfüllte ihn mit unaussprechlicher Leidenschaft und Erregung.
Und Sehnsucht.
Ob er sie wiedersehen konnte? Ob es ihm wohl gelänge, nochmals die Schwelle zu überschreiten in jene Welt auf der anderen Seite des Seins, womöglich an ähnlicher Stelle? Er würde es versuchen, sofort morgen!
Eigenartigerweise war ihm ihr Gesicht sehr vertraut. Ob er sie womöglich kannte? Seine bewusste Erinnerung war wie ausgelöscht, doch in einem verschütteten Winkel seines Gedächtnisses regte sich etwas.
Es war ihre Stimme.
„Bleibe bei mir, Darius. Geh nie wieder weg von mir.“
Die bittere Süße des Liebesschmerzes drang in sein Herz. Er kannte dieses Gefühl. Doch woher?
Er zuckte zusammen.
Ob diese Frau jemand war, den er einst verloren hatte? Oder hatte sie ihn verloren?
War dies womöglich ein Wiedersehen gewesen?
Er würde es herausfinden. Er wusste nun genau, was er tun würde, ja tun musste. Er konnte sich nicht entsinnen, jemals so überzeugt von etwas gewesen zu sein.
Sein Blick fiel auf den Geigenkasten. Er stand von seiner Schlafstatt auf und öffnete ihn. Da lag die Geige, unschuldig und freundlich, wie ein gestaltgewordener Gruß von jenem Drüben, von dem er einst ein Teil gewesen war. Er nahm sie heraus, spannte den Bogen und setzte sie an. Er stimmte sie zunächst, als ob er nie etwas anderes getan hätte.
Dann spielte er. Ihm kam eine Melodie in den Sinn, die er kannte. Sicher und explizit griffen seine Finger, leicht und eindringlich führte er den Bogen. Er ließ das, was an Erinnerung in ihm war, Klang werden.
Plötzlich wusste er, was es war. Es war das Violinkonzert von ... Sibelius! In seinen Gedanken erklang die flüsternde Orchesterbegleitung. Wie ein weiter, stiller See, über dem wilde Schwäne flogen. Er kannte jede Note, jeden Klang.
Grim und die anderen hatten gebannt Darius’ Erzählung gelauscht. Einige nickten bestätigend, in einigen Gesichtern war ein Leuchten zu sehen, andere hatten Tränen in den Augen. Nur einige persönliche Details behielt Darius für sich; dies waren Dinge, die ganz allein ihm gehörten.
„Ihr Vortrag hat mich ebenso angerührt wie mit Freude erfüllt“, unterbrach Grim die andächtige Stille, „wie sicherlich jeden hier im Saal. Doch das, was in mir die meiste Hoffnung weckt, ist, dass es Ihnen gelungen ist, wahrhaft körperlich in die andere Welt zu wechseln!“
„Wir haben jetzt einen zweiten Wanderer“, sagte Baruch schmunzelnd und blickte auf Melmoth, der leise schnatternd auf seiner Schulter saß.
„Dies bedeutet, dass wir wahrhaft Einfluss nehmen können auf das, was uns beeinflusst“, sagte Grim, „sowohl im Diesseits als auch im Jenseits.“
Udolpho, der würdige Herr mit dem Pelzmantel und der schweren Goldkette, bemerkte: „Ich hoffe, dass Sie uns dies bald werden lehren können.“
„Vor allem aber könnten Sie uns Utensilien beschaffen, die uns für unseren Kampf in dieser Welt stärker macht“, sagte Grim.
„Was könnte dies sein?“ fragte Darius.
„Wir wissen es selbst nicht genau. Es könnte uns alles dienlich sein, womit wir den Tag besiegen können. Das heißt, wir brauchen etwas, das uns widerstandsfähig macht gegen das Licht. Dies würde uns überlegen machen gegen Die Anderen , die die Kinder der Dunkelheit sind.“
„Einer nicht!“ wandte Darius ein. „Harlan. Er nutzt des Tages nicht nur das Tunnelsystem, sondern kleidet sich in weiße, reflektierende Gewänder und schützt sein Gesicht mit einer Maske.“
„Harlan ...“
Grims Miene wurde ernst.
„Er war schon da, als ich kam.“
„Ich war vor ihm da.“
Berenike, die ältere Dame mit der spitzenbesetzten Haube beugte sich vor. „Seit etwa fünf Jahrzehnten kamen immer mehr jener Wachen.
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