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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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Wecker warf. Er zeigte 0:57 Uhr an.
    Spät war es. Normalerweise schlief man um diese Zeit.
    Darius ging zur Tür und trat hindurch. Eine kleine Diele, dann kam wieder eine Tür, die in ein Wohnzimmer führte. Ein paar leere Flaschen Bier standen dort, und zwei Gläser, in denen der Schaum noch nicht ganz angetrocknet war. Jemand war wohl zu Besuch gewesen.
    Bezaubert blieb sein Blick an einem Strauß Rosen hängen. Die Farbe der Blüten variierte von einem tiefen Bordeauxrot über ein leuchtendes Orange, einem zarten Weiß bis hin zu leuchtendem Rosa und strahlendem Gelb. Sie dufteten aufregend und sinnlich.
    An einer Stelle des Raumes schwebte ein anderer, sehr eigenartiger Geruch. Unangenehm, als hätte ein krankes Tier eine Spur von Eiter und Blut hinterlassen. Es kam von dem einen Stuhl am Esstisch.
    Ein Schauder durchfuhr ihn. Etwas Furchterregendes, Bedrohliches war hier gewesen, das er von irgendwoher kannte.
    Ansonsten war nichts Besonderes zu entdecken. Eine weitere Tür führte in eine kleine Küche.
    Darius ging wieder zu der Person am Schreibtisch. Diese war aus ihren Grübeleien offenbar aufgewacht und tippte emsig etwas auf der vor ihr liegenden Tastatur.
    Darius besah sich das Bücherregal. Die Titel waren ihm alle unbekannt. Etwas neugierig machte ihn ein Buch, von dem gleich mehrere Exemplare in einer Reihe standen.
    Verstohlen griff er eines und las den Titel. Er lautete: „ Die blaue Violine . Roman von Berthold Brückner.“
    Der Name traf ihn wie ein Donnerschlag.
    Brückner.
    Es war ihm, als spräche eine Stimme aus unendlich lange vergangener Zeit zu ihm.
    War dies nicht sein eigener Name gewesen?
    War dieser junge Mann – sein Sohn? Sein Enkel? Oder Urenkel?
    Und er hatte einen Roman geschrieben – über eine Geige!
    Sein suchender Blick blieb an einem kleinen Bild haften, das der junge Mann über seinen Schreibtisch gehängt hatte. Es war genau die Art von Photographien, die ihm bekannt vorkam. Darauf war ein junger Mann, mit einem Frack bekleidet. Unter dem Arm hielt er eine Geige. Er blickte selbstbewusst auf den Betrachter. Am unteren Bildrand befand sich eine Jahreszahl: 1903.
    Darius begann zu zittern. Dies war ein Bild von ihm.
    Plötzlich erinnerte er sich. Er erinnerte sich an den Phototermin. Wie er sich in Positur gestellt hatte, der Photograph die Anweisungen gab und die Platte in den Apparat schob ...
    Es war die Zeit seines Erfolges. Er war als Geiger aufgetreten ... vor Publikum!
    Darius starrte auf das Bild darunter. Ein Gruppenphoto. Einer darauf war er.
    Bebend vor Erregung las er die Unterschrift:

    „Das Brückner-Quartett: Lyonel von Meyrinck, Viola
    Dankwart Brückner, 1. Violine – Janós Kertesz, Violoncello
    – Erich Zann, 2. Violine.
    Musikverlag »Le Corbeau«, Paris.“

    Dankwart Brückner.
    Das war er .
    Aus dem Dankwart von damals war Darius geworden!
    Und hier saß jemand, der diese Erinnerungen an ihn bei sich an einen besonderen Platz gehängt hatte! Der an ihn dachte, nach vielen, vielen Jahren!
    Jemand, der ihn persönlich nie kennengelernt hatte! Und doch ...
    Jetzt verspürte er Tränen der Rührung. Am liebsten hätte er Berthold umarmt.

»Weißt du das noch nicht? Das ist ein böser Mann,
der kommt zu den Kindern, wenn sie nicht zu Bett gehen wollen
und wirft ihnen Händevoll Sand in die Augen,
dass sie blutig zum Kopf herausspringen,
die wirft er dann in den Sack und trägt sie in den Halbmond
zur Atzung für seine Kinderchen;
die sitzen dort im Nest und haben krumme Schnäbel, wie die Eulen,
damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf.«
    E.T.A. Hoffmann, Der Sandmann

    E ndlich. Darius sah in die grünen Augen seiner Sehnsucht. Die Augen, die ihn zum Leben erweckt hatten. Er blickte in ein schönes, junges Gesicht, ernst und intelligent, umrahmt von schwarzen Haaren, und jenem geheimnisvollen Zauber, der all dem innewohnt, das nicht nur von dieser Welt ist.
    „Du bist Dankwart, nicht wahr?“ fragte Leni.
    „Ja“, sagte Darius, „ich bin Dankwart. In meinem jetzigen Dasein trage ich einen anderen Namen. Daher klingt mein wirklicher Name für mich noch fremd. Aber auch vertraut. Wie aus ferner Zeit.“
    „Wie nennt man dich in deinem jetzigen Leben?“
    „Ich heiße jetzt Darius. Aber nenne mich, wie du möchtest. Jeder der beiden Namen ist schließlich meiner.“
    „Es ist schön, dich zu sehen, Darius, der du Dankwart warst“, sagte Leni. „Du hast mich getröstet, als ich alleine und verzweifelt war.“
    Darius

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