Die schlafende Stadt
lächelte.
„Du hast mich zum Leben erweckt. Deine wundervollen Augen brachte das Leben in mein totes, schwarzes Dasein. Damals, als du dich anschicktest, an unseren Ufern anzulegen, um dann aber zurückzukehren in die Welt der Lebenden.“
Sie fassten sich an den Händen und sahen sich an.
Leni wandte sich an Berthold, der im Hintergrund saß und angespannt, wenn nicht gar ängstlich dreinblickte, und übermittelte ihm Dankwarts Worte.
„Weiß er, dass er mein Urgroßvater ist?“ fragte er.
„Er sagt, dass er es bislang nicht gewusst hat. Er sei wie aus einem langen Schlaf erwacht und sei nun auf der Suche nach dem Menschen, der er eigentlich ist. Er ist glücklich und tief bewegt, dich sehen zu dürfen.“
Leni hielt inne, als lausche sie auf etwas.
„Er bittet dich, ihm von Eurer Familie zu erzählen.“
Berthold war so aufgeregt, dass er Mühe hatte, seine Gedanken zu ordnen. Nervös kramte er in Antons Schachtel, wo er auch seine eigenen Notizen aufbewahrte. Er fischte fahrig einen Zettel heraus und warf einen Blick darauf.
„Du hast vier Kinder: Hermann, August, Corinna und Anton, meinen Großvater.“
„Er möchte wissen, wie seine Frau heißt“, sagte Leni.
„Deine Frau heißt Sophia, geborene Sommerfeldt. Ihr habt im Jahr 1904 geheiratet. Du warst damals ... Moment ... vierundzwanzig Jahre alt. Sie war siebenundzwanzig. Ihr habt euch bei einem Konzert von dir kennengelernt. Sie sagte immer, sie habe schon von dir geträumt, bevor ihr euch kanntet.“
Schweigen.
„Was sagt er?“ fragte Berthold flüsternd.
„Nichts! Er blickt jetzt nur etwas träumerisch.“
„Soll ich weitermachen?“
„Ja. Er bittet dich darum.“
„Also ... dein jüngster Sohn, Anton, hat 1937 meine Oma Adelheid geheiratet. Er nannte sie Heidi. Die beiden haben fünf Kinder: Sylvia, Amanda, Clara, Ida und meinen Vater Ludwig. Heidi ist sehr früh an Krebs gestorben. Papa war erst zehn Jahre alt.“
„Er fragt, ob Anton in einem Krieg war. Einem Krieg gegen Russland womöglich.“
„Nun, er war tatsächlich im Krieg, dem zweiten Weltkrieg, und auch noch an der Ostfront. Er wäre bei einem Scharmützel fast erschossen worden, aber er hat wie durch ein Wunder überlebt.“
Leni war wiederum sehr aufmerksam und konzentriert.
„Er sagt, er sei bei ihm gewesen und hat ihn beschützt“, sagte Leni. „Er ist sehr angerührt. Er sagt, er wusste nicht, dass es sein eigener Sohn ist.“
Sie beobachtete Dankwart eine Weile, bis sich seine Gefühle etwas beruhigt hatten.
Leni gab seine nächste Frage weiter: „Wie ist es mit deinem Vater Ludwig weitergegangen?“
„Nun, er ist Architekt. Meine Mutter hat er kennengelernt, als sie hier ein Praktikum als Buchhändlerin gemacht hat. Meine Mutter heißt Carmilla und stammt aus Schottland.“
Leni sah Bertold an. „Er fragt nach einem Kostümfest“, sagte sie überrascht.
Berthold lachte verlegen.
„Nun ... ein Kostümfest spielt für mich insofern eine wichtige Rolle, alsdass meine Eltern mich wohl am Rande einer solchen Veranstaltung gezeugt haben, ganz romantisch, mitten im Wald. Es war so ein Mittelalterfest, und dort kamen sie das erste Mal so richtig zusammen. Deshalb haben sie wohl auch recht schnell geheiratet.“
Er sah auf.
„Er wird doch nicht etwa sagen, dass er da auch dabei gewesen ist?“
Leni sah Dankwart fragend an. Der sah jetzt etwas verschämt aus.
„Nur kurz“, sagte Leni ebenso zögernd wie er. „Er meint, dass es ihn vermutlich angezogen habe, dass du dadurch auf diese Welt kamst. Er habe sich sein Erscheinen nie bewusst ausgesucht.“
„War er auch bei unserem Zusammensein dabei?“ Eine leichte Empörung schwang in Bertholds Stimme mit.
„Nein. Aber er hat unsere Begegnung gespürt und mitempfunden.“
Berthold wirkte erleichtert. Die Vorstellung, beim eigenen Liebesspiel von seinem Urgroßvater beobachtet zu werden, war ihm trotz aller Verbundenheit peinlich.
„Er sagt: ‚Dein Denken an mich hat mich zu dir geführt‘„.
Darius wurde jetzt unruhig. Er atmete schwer, denn eine folgenschwere Frage hatte er noch zurückbehalten.
„Wie bin ich gestorben?“
Berthold schien jetzt traurig.
„Du starbst in deiner Heimat Südtirol“, sagte er bekümmert. „Es war im Krieg, dem ersten Weltkrieg. Du warst dort als Soldat, und zwar in den Bergen, den Dolomiten. Hier, so sehen sie aus.“
Er zog einen großformatigen Bildband aus seinem Bücherregal und hielt ihn in Dankwarts Richtung. Das Titelbild zeigte die Drei
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