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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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war Harlan erst am Beginn seiner Erkundungen oder es gelang ihm nur sehr langsam, etwas zu finden.

    Jetzt, wo er noch wacher und wissender geworden war, erschien ihm Harlan als noch größeres Rätsel als zuvor. So vertraut, so nahe, wie er ihn erlebt hatte, so fremd und entfernt war er ihm. Seit er ihn nun in Verbindung mit Militärpolizei bringen musste, fühlte er sich abgestoßen. Er hielt es jetzt für möglich, dass Harlan seine Reisen, die er vom Zentrum des Schlosses wohl unternahm, für Erhalt und Ausbau seiner Macht nutzen wollte. Hatte er nicht selbst demonstriert, welch ein Bedürfnis nach Tageslicht er hatte? Natürlich, wer das Tageslicht ertrug, der war der Herr über all dieses Dasein hier, war jenem Verfall nicht mehr ausgeliefert, denn sobald man begann zu fühlen, war man nicht mehr tot, so tot wie die anderen, die tagsüber nur noch die verfaulten, verwesten, vergangenen Abbilder ihres Seins waren und nur des Nachts ihre dumpfe, ghoulische Existenz fortsetzten.
    Er fragte sich, ob er auch einst als toter, entstellter Körper auf seinem Lager gelegen haben mochte, so wie Beda. Nun, sollte dem so sein, jetzt war er jedenfalls wiedererstanden, neu zum Leben erweckt, geheilt wie von einer Krankheit.
    Ob man Beda auch heilen konnte? Beda und die anderen womöglich auch?
    Er teilte diesen Gedanken Grim mit.
    „Das wäre das große, das wunderbare Ziel, das wir hier alle verfolgen“, sagte er.
    Darius sah in seinem Gesicht die Erregung, die jemand hat, wenn er spürt, vor einer bedeutenden Erkenntnis zu sein.
    „Lass uns nachdenken, Darius. Deine Lebendigkeit brach hervor durch verborgene Erinnerungen, die aus dem Dunkel deiner Seele auftauchten wie aus einem tiefen Ozean.“
    „Und dies lag an deiner Sehnsucht nach einer Frau!“ rief Eleonora. „Jener, die du gesehen hast!“
    „Das erste mal, dass ich etwas fühlte, war das grässliche Ereignis im Tempel“, murmelte Darius, „auch dies könnte eine Erinnerung ausgelöst haben. Aber ich weiß nicht, welche.“
    „Vielleicht war es ja auch beides“, sagte Grim. „Entscheidend ist doch, dass dadurch dein Geist wacher und wacher wurde, und dadurch deine Fähigkeit stärker wurde, Kontakt zum Diesseits herzustellen.“
    „Aber diese Wachheit haben wir doch auch! Warum gelang es Darius, in die Andere Welt zu reisen und uns nicht?“ ereiferte sich Eleonora.
    „Vielleicht war das Gefühl, das entscheidend ist, bei ihm stärker als bei uns.“
    „Es ist das Gefühl von Liebe und grenzenloser Sehnsucht“, sagte Darius. „Es ist voller Glück und voller Schmerz. Es beherrscht mich seitdem, es erhält mich, und es führte mich durch die größte Finsternis, wie ein Licht in dunkler Nacht.“
    „Und es war die Liebe nach Jemandem “, warf Uriel ein. „Vielleicht ist dies wichtig. Du hattest ein Ziel, das dich leitete. Auch ich verspüre Liebe und Sehnsucht, aber ich weiß nicht, nach wem.“
    „Das heißt, wir müssten uns erinnern“, folgerte Grim. „Und nicht nur an vage, allgemeine Sachen, sondern an ganz konkrete Dinge, die mit uns persönlich zu tun haben. Vor allem an Menschen.“
    „Mit jeder Begegnung wurdest du lebendiger“, sagte Berenike, „und damit erwarbst du die Fähigkeit, im Licht zu wandeln.“
    „Es ist genau, wie wir dachten“, sagte Grim nicht ohne Stolz, „die Erinnerungen werden über den Tod siegen. Wir müssen tatsächlich wider das Vergessen angehen, nur dass es nicht ausschließlich, wie wir bisher annahmen, an Denen in der anderen Welt liegt, ob wir dem endgültigen Verschwinden anheimfallen, sondern auch an uns.“
    Er blickte plötzlich besorgt.
    „Wir können nur hoffen, dass Harlan nicht schneller ist als wir.“
    Darius berichtete von seinen Fundstücken. Er präsentierte den braunen Umschlag, und ließ den Inhalt herumgehen. Er erntete aufgeregtes Murmeln und Tuscheln.
    „Geheime Staatspolizei!“ rief Guntram aufgebracht. „Seht euch die Dienstgrade an! ‚Hauptsturmführer’, ‚Kriminalrat und Untersturmführer’! Da haben wir unsere Soldaten! Harlan führt hier bei uns wahrscheinlich etwas Ähnliches wie im Diesseits!“
    „Wir müssen ihn vernichten!“ sagte Udolpho angespannt, „sonst wird er uns alle aufspüren und renaturieren, um sein Regime aus folgsamen Herdentieren zu festigen!“
    „Wir müssten ihn seiner eigenen Renaturierung zuführen“, sagte Eleonora, „um ihn aus seiner Beherrscheridentität zu lösen.“
    „Wie sollte das gehen?“ sagte Uriel gereizt. „Sämtliche

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