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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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Zinnen in der Abendsonne. Mächtig sahen sie aus, wie grandiose, steinerne Wächter.
    „Als du starbst, war es Winter. Es muss dort tief verschneit gewesen sein.“
    Darius starrte auf die Landschaft. Ein Tor in seinem Inneren knarrte und öffnete sich einen Spalt. Eine vage Erinnerung drang hindurch.
    „Man sagt, du seiest mit einer Gruppe von Kameraden unterwegs gewesen ins Tal, nach Sexten. Du führtest sie durch das schneeverwehte Gelände, seiest aber dabei an Erschöpfung und Kälte gestorben. Durch dich haben die anderen alle überlebt.“
    Darius erschauerte. Das Gefühl der Kälte. Wahrhaftig, er kannte es. Nie hatte er gewusst, woher.
    Wie viele seiner vagen Empfindungen, selbst damals im tiefsten, dumpfesten Todesschlaf, waren in Wahrheit Erinnerungen gewesen! Sein Frösteln im Tempel, die Windungen des Violinschlüssels, die er im Relief des Torbogens wiedererkannt hatte. Sein Traum von dem erschöpften Marsch durch den Schnee. Vielleicht sogar sein Drang, zu wandern und auf Felsen zu steigen.
    In seiner Seele rumorte es. Es war ihm, als habe man gerade den Korken der sagenhaften magischen Flasche gezogen und tausende von Geistern aller Art und Gesinnung schickten sich an, daraus hervorzukommen. Doch seine Neugierde war weitaus stärker als jede Furcht und jede Trauer.
    Gleichzeitig fühlte er etwas, was ihn wieder ins Jenseits zog. Jetzt wurde ihm bewusst, wie lange er schon hier war, hier in dieser Welt. Noch nie war er so lange geblieben, noch nie hatte er so lange bleiben können.
    Hastig stellte er Leni seine nächste Frage.
    „Er fragt, was das für ein Krieg war.“
    Berthold fühlte sich verwirrt. Wie sollte er ein solch gewaltiges, komplexes Ereignis, das er selbst kaum verstanden hatte, in wenigen Worten zusammenfassen?
    „Es hat zwei Kriege gegeben“, sagte er dann. „Der erste dauerte von 1914 bis 1918. Damals kamen viele fürchterliche Waffen zum ersten Mal zum Einsatz. Zum Beispiel wurde Gas eingesetzt, allerdings nicht dort, wo du warst. Der Krieg in den Dolomiten war vor allem ein Stellungskrieg. Man musste monatelang in den Schützengräben ausharren. Bitterkalt muss es dort gewesen sein. Wahrscheinlich starben dort mehr Soldaten an den Entbehrungen als durch feindlichen Beschuss.“
    „Und der andere Krieg?“
    „Oh, das war ein noch größerer, schrecklicher Krieg. Es war der Krieg, in dem Anton, dein Sohn, gekämpft hat. Es starben noch mehr Menschen, und es gab noch schrecklichere Waffen. Am Ende wurden durch den Abwurf einer einzigen Bombe ganze Städte zerstört. In Deutschland waren zu dieser Zeit die Nationalsozialisten an der Macht. Sie führten unter dem ‚Führer‘ Adolf Hitler, wie er sich nannte, eine Art Militärdiktatur, in der freie Meinungsäußerungen unterdrückt wurden, wo politische Gegner verfolgt und umgebracht wurden. Deutschland begann den Krieg, in dem es Polen überfiel, weil man eine wahnhafte Idee von einem Weltreich hatte. Man nannte es das Tausendjährige Reich, obwohl das Regime, das wir damals hatten, nur zwölf Jahre an der Macht war.“
    „Er fragt nach schwarzen Uniformen.“
    „Es gab eine Eliteeinheit, die Schutzstaffel. Die trugen schwarze Uniformen. Ein Teil von ihnen bildete die Gestapo, die Geheime Staats-Polizei . Die trugen manchmal auch lange schwarze Ledermäntel.“
    „Was haben diese Polizisten getan?“
    „Ich glaube, sie überwachten die Bevölkerung, um, wie sie es nannten, ‚staatsfeindliche Umtriebe‘ aufzuspüren und auszumerzen, also gefangenzunehmen, zu verhören und zu töten. Es gab viele Gefängnisse damals, in denen die Gefangenen gefoltert und umgebracht wurden, und dann wurden große Lager eingerichtet, in denen tausende von Menschen interniert wurden, die dem faschistischen Regime nicht passten. Man wollte sogar ganze Volksgruppen vernichten, besonders die Juden, weil man behauptete, sie seien Parasiten und eine minderwertige Rasse, die die deutsche Bevölkerung und sogar ganz Europa bedrohe. Es war wie ein ungeheures, systematisch organisiertes Vernichten von mehreren Millionen Menschen. Und im Krieg sind noch viel mehr umgekommen.“
    Jetzt war er doch etwas stolz, dass doch so einiges in seinem Hirn haften geblieben war. In der Schule war Geschichte nicht gerade sein Lieblingsfach gewesen.
    „Weißt du etwas von Harald Nachtmann?“
    „Den kenne ich nicht.“
    „Er muss Musiker gewesen sein. Cellist. Und ein hohes Mitglied der SS.“
    Berthold war bereits aufgesprungen und blätterte in seinem Lexikon.

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