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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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Avenal

    D arius erwachte mit einem Lächeln, obgleich der Anblick seiner Stube ihn sofort mit der schmerzhaften Wahrheit konfrontierte, doch nicht auf jener sonnenbeschienenen Terrasse mit seiner Geliebten zu sitzen. Es war nur ein Traum gewesen. Trotzdem fühlte er sich gut, gestärkt und noch ganz erfüllt von der ganzen Pracht der Eindrücke.
    Beim Aufrichten fühlte er auf einmal einen Schmerz an seinem Hinterteil. Etwas stach ihm in den Rücken. Er griff unter sich und förderte etwas Hartes zutage.
    Er erstarrte. In seiner Hand hielt er einen hölzernen, geschnitzten Vogel, bunt lackiert, mit einem großen, krummen, knallroten Schnabel, der sich ihm gerade so unnachgiebig ins Fleisch gebohrt hatte.
    Verwirrt und entzückt gleichzeitig stellte er ihn auf seinen Nachttisch. Wo immer er auch her sein mochte, er sah ihn fortan als Symbol der Lebensfreude, die er für sich entdeckt hatte, und die er weiterzuverfolgen gedachte, mehr denn je. Nach all den Erlebnissen in der Stadt der Toten hatte er einen derartigen Hunger nach Schönem, dass er beschloss, sobald wie möglich wieder in die andere Welt zu reisen.
    Vor allen Dingen musizierte er wieder viel auf seiner Geige, und ließ alles an Melodien strömen, die die Tiefen seiner Seele freigaben. Dies war die zuverlässigste Verbindung zu allem, wonach er sich sehnte.
    Mit Grim zusammen saß er ab und zu bei einem guten Wein. Er entdeckte dabei, dass Geschmack auf eine besondere Weise die Verbindung zu vergessenen Dingen herzustellen vermag, denn immer wieder blitzten plötzlich Bilder in ihm auf, die ihm zumeist sehr schnell wieder entschwanden, ohne dass er sie festhalten konnte, einige aber blieben. Zunächst waren es nicht mehr als Puzzlestücke, die alleingenommen noch keinen Sinn ergaben, aber er hoffte, dass sich alles zu einem Sinn zusammenfügte, je mehr Erinnerungen in ihm auftauchten.
    Erst nach Tagen öffnete er den braunen Umschlag, den er aus Harlans Sekretär entwendet hatte. Fast fühlte er sich schuldig, denn es mochte Harlan viel Aufwand und Mühen gekostet haben, diese Dinge zu beschaffen. Offenbar verfolgte er ähnliche Ziele wie er, denn nur die Neugierde nach jenem Drüben konnte ihn ja dazu gebracht haben, sich Bücher und Dokumente zu besorgen, wie Darius sie in seiner Kammer gefunden hatte, nur dass er nicht einschätzen konnte, wozu er das wohl tun mochte.

    Das erste, was er fand, war ein Konzertprogramm:

    Darius stutzte. Werke für Violoncello und Klavier! Violoncello! Und ein gewisser Harald Nachtmann als Cellist.
    Harald Nachtmann?
    Was für eine Beziehung mochte Harlan nur zu diesem Mann haben?
    Ein dumpfer Verdacht stieg in Darius auf. Er dachte an die Partitur, die er gefunden hatte. Die Cellosonate.
    War Harlan auf der Suche nach seiner Identität womöglich fündig geworden? War Harlan in seinem früheren Leben auch Musiker gewesen?
    So wie er?
    War Harlan - jener Harald?
    Darius fuhr sich angespannt durchs Haar. Angestrengt biss er sich auf die Lippen.
    Wenn dies so war: Was nur trieb einen Cellisten, einen Schöngeist, in diese bedrohliche Position dieses Ordens von Jalán?
    Was machte ihn zum Befehlshaber einer Armee von schwarzgekleideten, gesichtslosen Schergen, die die Bürger der Stadt überwachten, ausspionierten, abholten, ‚ renaturierten’ ?
    Die Antwort auf diese Fragen deutete sich bald an. Das nächste Dokument war ein Brief:

    Darius konnte nur darüber spekulieren, was der Schreiber wohl meinte. Sicher war dagegen, dass Harald Nachtmann ein einflussreicher Mann gewesen sein musste, ein Offizier womöglich, dem Titel nach zu urteilen.
    Unter der Signatur des Absenders prangte ein verblasster Stempel, der einen Adler zeigte. Darunter befand sich ein Ornament, das Darius nicht zuzuordnen wusste, eine Art gedrehtes Kreuz mit winkelig angebrachten Fortsätzen. Es erinnerte ihn etwas an die kleinen Windrädchen, mit denen die Buben in der Stadt manchmal spielten.
    Ob Harald eine Armee befehligt hatte und dies in diesem Dasein hier fortsetzte?
    „Kriminalrat“, – das klang wie ... Polizei. Dies schien auf beklemmende Weise zu passen. Harald war offenbar in einer Position gewesen, Gefangene überstellen zu lassen. Gefangene, die mehr unter einer Nummer als unter ihrem Namen geführt wurden. Alles hatte mit einem Lager zu tun, das offenbar von einem Kommandierenden der gleichen Truppe befehligt wurde. Beunruhigend klang das. Und bösartig.
    Außer ein paar Holzsplittern war nichts Weiteres in dem Umschlag. Entweder

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