Die schlafende Stadt
heute her.“
„Ich könnte dich sofort renaturieren lassen.“
„Ich weiß.“
„Und du hast keine Angst?“
„Doch. Aber ich hoffe, dass du es nicht tun wirst.“
„Und warum sollte ich nicht?“
„Weil das nicht der Harald ist, der du einst warst.“
Dankwart sah ihm direkt in die Augen.
„Und auch nicht der Harald, der du bist.“
Harlan wandte sich ab. Er sah aus dem Fenster und blickte auf das Meer.
„Du hast womöglich recht“, sagte er nach einer längeren Pause. „Aber ich war vielleicht noch nie der Harald, der ich eigentlich bin.“
Dankwart trat neben ihn. Das Fenster blickte genau gen Hafen, und man konnte die einzelnen Boote erkennen, die in die Einfahrt fuhren.
„Einen schönen Blick hat man von hier“, sagte Dankwart, „aber noch schöner ist er bei Sonnenlicht.“
„Der Anblick der Sonne ist mir verwehrt“, sagte Harald.
Er blickte auf Dankwart.
„Dir offenbar nicht. Nicht mehr.“
„So ist es. Nicht mehr.“
„Wie ist dir das gelungen? Auch ich bin gereist.“
„Hat dich dieses Reisen nicht so lebendig gemacht wie mich?“
Harald schwieg.
„Nein“, sagte er schließlich. „Ich wurde nicht lebendig. Wie sollte ich auch?“
Sein Mund verzog sich verbittert.
„Ich fand nichts, weshalb ich dies fühlen sollte. Ich fand nur Abstoßendes, Hässliches. Ich träumte mich zu Menschen, die ich verabscheue und verachte.“
Er wies auf den Briefumschlag.
„Ich fand Dokumente über mich. Ich lernte, mich an den zu erinnern, der ich einst war. Nichts war bisher dabei, was mich hätte versöhnen können mit dem, was man das Leben nennt.“
„Es schmerzt mich, das zu hören.“
Harald lachte sarkastisch.
„Es schmerzt dich? Mich schmerzt es nicht mehr. Es ist so, wie es ist. Wir können uns unser Schicksal nicht aussuchen. Ich bin zu dem verdammt, was ich war und auch hier wiederum bin.“
Er sah unbewegt auf Dankwart. Nur ein leichtes Zittern seines Kinns verriet seine Bewegung.
„Ich vermute, du hast etwas ganz anderes wiedergefunden als ich“, sagte er.
„Ja. Das habe ich.“
„Menschen, die dich lieben? Die gerne an dich denken?“
„Ja.“
„Wie schön für dich.“
Harald sah wieder zum Fenster und verschränkte die Arme.
„Und so fandest du zum Licht.“
„Ja. Es machte mich lebendig. Und je lebendiger ich wurde, desto mehr kehrte ich zum Licht zurück.“
Harald schwieg.
Dann drehte er sich um.
„Ich werde die Wachen nicht rufen“, sagte er fest. „Es ist gegen jeden Grundsatz, den ich hier vertrete, aber ich werde es nicht tun. Ich möchte es nicht. Gott weiß, warum.“
„Ich weiß vielleicht, warum.“
Dankwart griff in seine Innentasche und holte das Photo heraus.
Elizabeth Nachtmann, geb. Murray, mit ihrem kleinen Sohn Harald.
„Hier. Weißt du, wer das ist?“
Harald griff zögernd nach dem Bild und betrachtete es.
Ein Schauer durchlief seinen Körper, als er begriff, wer dort auf dem Bild war. Er kniff die Lippen zusammen.
Dann liefen die Tränen seine Wangen herab. Sein Gesicht blieb ausdruckslos. Stumm und beherrscht weinte er.
Es dauerte eine Weile, bis er wieder sprechen konnte.
„Bist du nun zufrieden? Ja, jetzt fühle ich Schmerz!“ stieß er hervor.
„Gehört sie auch zu denen, die du verachtest?“ gab Dankwart zurück.
„Sie verließ mich, als ich sie noch dringend gebraucht hätte!“ rief Harald. „Wofür sollte ich sie achten?“
Seine Tränen waren noch immer nicht versiegt. Er biss die Zähne zusammen, als er sprach.
„Vielleicht wollte sie nicht gehen. Sie war vielleicht krank.“
Dankwart spürte jetzt seine eigene Trauer.
„Auch ich habe eine Familie zurückgelassen. Eine junge Frau und vier Kinder. Mein kleinster Sohn hat mich nie kennengelernt.
Aber ich ging nicht freiwillig. Mein ganzes Sehnen galt meiner Familie. Ich wollte niemals fort von ihnen, und dann, als ich weg musste, wollte ich sie wiedersehen, von ganzem Herzen. Und doch durfte ich nicht. Ich starb, weitab von allen, die ich liebte, gegen meinen Willen, gegen mein Verlangen, in einem Krieg, der nicht meiner war.“
Harald verbarg sein Gesicht in seinen Händen.
„Ich dachte immer, ich ertrage das nicht“, flüsterte er gequält.
Er sah wieder auf das Bild.
„Ich hatte diesen kleinen Jungen von einst vergessen. Ich hatte ihn völlig verbannt aus meiner Seele, verstoßen und begraben.“
„Und jetzt?“
„Jetzt merke ich, dass er noch da ist. Er war nie fort. Er ist ich. Ich bin er.“
Er deutete auf das
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