Die schlafende Stadt
schleppend und kehlig, als verursache das Sprechen unerträgliche Schmerzen.
„Verpiss dich!“
Robin hatte überhaupt keinen Klang in seiner Stimme. Sein Rachen war wie zugeschnürt. Er brachte kaum mehr als ein Quetschen zustande. Es war ihm, als brülle er mit aller Kraft gegen einen Orkan an.
Roger hatte ihn verstanden.
„Aber wieso?“ lallte er mit einem enttäuschten Unterton. „Wir sind doch jetzt Brüder! Nichts kann uns mehr trennen!“
Er beugte sich jetzt vor und einen grauenvollen Moment lang küsste er Robin mit seinem verformten, verschwollen Mund auf die Lippen. Robin spürte deutlich die harten Blutkrusten, den feuchten, schleimigen Speichel. Rogers Haut und seine Haare stanken deutlich nach dem Müll, zwischen dem Robin ihn gesteckt hatte.
Mit einem würgenden Laut ergoss sich plötzlich ein Schwall von schwärzlicher Flüssigkeit aus Rogers Mund. Robin schmeckte Blut und Eiter. Er wollte schreien, aber er verschluckte sich an etwas. Panisch rang er nach Luft. Die Todesangst überdeckte kurz den unsagbaren Ekel.
Endlich hustete er mit dem letzten Vorrat an Luft etwas aus und rang mit hohlem Klang in der Luftröhre nach Atem. Tausende von Farbflecken tanzten vor den Augen.
Dann klärte sich sein Blick. Er starrte in ein undurchdringliches Dunkel. Er war allein. Winselnd kauerte er sich zusammen und zog sich die Decke über den Kopf.
Welch eine Nacht! ihr Götter und Göttinnen!
Wie Rosen war das Bett! Da hingen wir
zusammen im Feuer und wollten
in Wonne zerrinnen!
Und aus den Lippen flossen dort und hier,
verirrend sich, unsre Seelen in unsre Seelen! –
Lebt wohl ihr Sorgen! wollt ihr mich noch quälen?
Ich hab' in diesen entzückenden Sekunden,
wie man mit Wonne sterben kann, empfunden!
PETRONIUS, Satyricon
E s musste Harlan sein, kein Zweifel. Es waren energische, feste Schritte.
Die Tür zu Harlans Zimmer wurde geöffnet und wieder geschlossen. Einige langsame Schritte waren noch zu hören, dann war Stille.
Dankwart hörte ein leises Seufzen.
Ob er die Rose gefunden hatte? Die gelbe Rose, die er ihm hingelegt hatte?
Wahrscheinlich war es die Rose. Denn nach einer Weile der Stille kamen jetzt schnelle Schritte auf die Tür zu Harlans Kammer zu.
Dankwart hielt den Atem an. Die Tür öffnete sich.
Es war Harlan. Er hielt einen fünfarmigen Kerzenleuchter in der Hand. In der anderen Hand hielt er die gelbe Rose. Suchend sah er sich in der Kammer um.
Als erstes ging er zu seinem Sekretär und öffnete ihn. Er stellte den Leuchter ab und untersuchte die Fächer.
Er zuckte zusammen. Da war der braune Briefumschlag, der bislang verschwunden gewesen war. Er griff ihn sogleich und untersuchte den Inhalt.
„Du staunst?“, sagte Dankwart leise.
Harlan fuhr herum und blickte nach oben.
Sein Blick entspannte sich, als er Dankwart erblickte.
„Darius!“
Dankwart schwang sich behände vom Kapitell hinunter und landete geschmeidig auf dem Säulenpodest. Dann stand er direkt vor Harlan.
„Ja. Ich bin es“, sagte er.
Harlan starrte ihn an. Er sagte kein Wort.
„Willst du nicht deine Wachen rufen?“
Harlan fixierte ihn noch immer unentwegt. Dann legte er die Rose auf die aufgeklappte Platte des Sekretärs, worauf er den Leuchter bereits gestellt hatte.
„Sollte ich das?“
„Du meinst doch sicher, ich hätte dich verraten?“
„Hast du das denn?“
Dankwart sah ihm in das ernste Gesicht. Es war eigenartig, ihn so zu sehen, nachdem er seinem Tod beigewohnt hatte.
„Nein. Deshalb bin ich hier“, antwortete Dankwart.
Harlan war still, eigenartig still. Jetzt sah er zu Boden, als bedrücke ihn etwas.
„Als du verschwandest, fühlte ich mich einsam und verlassen“, sagte er.
Er sah zu Dankwart hin.
„Ich glaubte, in dir jemand Gleichgesinnten gefunden zu haben. Jemand, der so ist wie ich.“
„Und du meinst, du hast dich geirrt?“
„Ich dachte es, ja.“
„Denkst du dies noch immer?“
„Ich wollte es nicht wahrhaben. Ich suchte nach Erklärungen.“
Dankwart empfand wieder dieses vertraute, geradezu liebevolle Gefühl für diesen zwiespältigen, unergründlichen Menschen. War es seine Tapferkeit? Der Soldat, der gegen den Künstler kämpfte? Mal spürte er tiefe Vertrautheit, die in der nächsten Sekunde von völliger Fremdheit abgelöst wurde.
War es diese Traurigkeit, die immerfort spürbar war?
„Es mag dich überraschen“, sagte er, „aber ich denke über dich ebenso, wie du über mich. Sowohl in dieser, wie in jener Hinsicht. Daher kam ich
Weitere Kostenlose Bücher