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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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Photo.
    „Wo hast du das her?“
    „Ich habe es von dir. Aus deiner Wohnung. Ich träumte mich zu dir, weil ich an dich dachte. Und weil du Musik hörtest. Musik, gespielt von mir.“
    „Von dir?“
    „Ja. Kurz, bevor du starbst, hörtest du eine alte Schallplatte. Dvořáks Streichquartett № 12 in F-Dur, das „ Amerikanische Quartett “. Mein Lieblingsstück. Eine Aufnahme mit dem Brückner-Quartett. Dies war meines. Ich heiße nicht Darius, wie ich auch erst seit kurzem wieder weiß. Mein Name ist Dankwart. Dankwart Brückner.“
    „Dankwart Brückner!“
    Harald starrte ihn ungläubig an.
    „Du bist ... Geiger? Musiker?“
    „Ja. Genauso wie du.“
    Harald tat einen schweren Atemzug.
    „Ach ja? Bin ich Musiker?“
    Sofort hatte seine Stimme wieder ihre zynische Festigkeit.
    „Aber ja. Ich habe deinen Namen doch auf dem Konzertprogramm gelesen, das du dort in jenem Umschlag aufbewahrst.“
    „Was du nicht sagst! Und wenn ich Musiker bin, was treibe ich dann hier?“ sagte Harald bitter.
    „Hier ist ja auch nicht dein Platz.“
    Dankwart trat einen Schritt vor.
    „Musiker müssen Musik machen und dürfen ihre Seele nicht mit einer destruktiven Tätigkeit in einem militanten Orden vergiften.“
    „Willst du mir etwa meinen Weg vorschreiben?“, spottete Harald.
    „Nein. Soweit ich es erkannt habe, ist dir vielmehr dein Weg bisher vorgeschrieben worden. Du tatest immerfort das, was du meintest, tun zu müssen, weil man es von dir erwartete. Du tatest aber nicht, was du eigentlich wolltest. Dein wahrer Weg ist ein anderer.
    Er ähnelt meinem. Ich glaube, ich wusste das von dem Augenblick an, als ich dich kennenlernte. Und du wusstest es auch. Erinnerst du dich nicht, über was wir sprachen, damals, als du zu mir gekommen bist?“
    Er zeigte in den Schatten der Nische neben der einen Säule.
    „Schau. Ich habe dir etwas mitgebracht.“
    Erst jetzt erkannte Harald seinen Cellokasten. Er lächelte schmerzlich und schüttelte ungläubig den Kopf.
    „Oh, was tust du hier mit mir? Willst du mich mit meinem Schmerz vernichten? Ist das dein Plan?“
    „Ich führe dich zum Licht.“
    Dankwart schob ihm den Kasten zu.
    Zögernd kniete sich Harald und öffnete den Kasten. Er schlug das violette, goldbestickte Tuch zurück und betrachtete das schöne, dunkle Instrument. Nahezu zärtlich strich er über die vernarbte, restaurierte Stelle. Jetzt wirkte er gebannt, fast schüchtern.
    Unsicher blickte er zu Dankwart auf. Dann nahm er das Cello aus dem Kasten, schob den Stachel aus und spannte den Bogen. Er zog den Stuhl am Sekretär zu sich, setzte sich und platzierte das Cello zwischen seinen Beinen.
    Dann begann er zu spielen. Ein wildes, virtuoses Stück. Das Cellokonzert von Camille Saint-Saëns. Er spielte, als habe er nie etwas anderes gemacht. Temperamentvoll der Anfang, sinnlich und lyrisch das langsame Gegenthema.
    Er setzte ab, als sei er über sich selbst erschrocken.
    „Du spielst wundervoll“, sagte Dankwart.
    Harald lächelte schwach. Er sah aus, als könne er es selbst nicht glauben.
    „Hier! Das gefällt dir sicher!“ sagte er ungewöhnlich lebhaft.
    Er spielte Dvořáks Cellokonzert h-moll. Den ersten Satz.
    Dankwart nickte begeistert. Tausend Erinnerungen schienen in ihm erweckt. Er zog seinen Geigenkasten hervor.
    „Wollen wir Musik machen?“
    Dankwart zückte eine Partitur.
    „Das hat mein Urenkel für uns besorgt.“
    Harald wirkte jetzt ebenso gelöst wie ermuntert.
    „ »Johan Halvorsen: Passacaglia, frei nach Georg Friedrich Händel in der Bearbeitung für Violine und Violoncello «“ las er. „Wo hat dein Urenkel denn das her?“
    „Keine Ahnung! Er sagte, dies sei ein besonders effektvolles Stück.“
    „Dann lass’ uns spielen.“

    Das Stück war tatsächlich wie geschaffen für sie Beide, das beste Duett, das Berthold hätte aussuchen können. Technisch war es ausgesprochen schwierig, aber dabei so brillant und voller Einfälle, dass sie beide jede Hürde leicht nahmen. Harald wirkte konzentriert und lebte und atmete jeden Ton, den er spielte. Ganz entrückt sah er aus, um ein anderes Mal wieder geradezu lustvoll gegenwärtig zu wirken. Sein Gesicht hatte sich völlig verändert. Die Härte war verschwunden, die tiefschwarze Melancholie war einer scheuen Heiterkeit gewichen.
    Dankwart hätte noch Stunden weiterspielen können, aber Harald wirkte nach einer Stunde des Musizierens müde.
    „Ich bin die Anstrengung nicht gewohnt“, entschuldigte er sich zerknirscht.

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