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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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Schwäche war ihm offenbar peinlich.
    „Ich muss ruhen“, gestand er, und erhob sich, um sein Cello einzupacken.
    „Wie wird es weitergehen?“ fragte Dankwart.
    Harald ergriff die gelbe Rose. Dann ging er wieder zum Fenster und blickte in Richtung des Hafens. Lange Zeit sah er schweigend aufs Meer hinaus.
    „Ich begreife nun“, sagte er ohne sich umzuwenden, „dass nichts mehr so bleiben kann, wie es bisher war.“
    Er wandte sich jetzt zu Dankwart.
    „Ich danke dir, dass du mir etwas so Schönes zurückgegeben hast“, sagte er. „Lieber bin ich lebendig und mit Schmerz, als tot und leer.“
    „Der Schmerz kann aufhören.“
    „Wie sollte das gehen?“
    „Wenn du ihn in die hintersten Winkel deiner Seele verbannst, verbannst du auch alles Schöne, Heilende, Belebende, mit der er in Verbindung steht. Die Musik, die dich erfreut. Die Liebe deiner Mutter, die dich erfüllt. Oder eine Freundschaft, die dir Halt gibt. All dies wird den Schmerz vertreiben.“
    „Von diesen Dingen gibt es für mich zu wenig.“
    „Das glaube ich nicht. Jemand, der so Cello spielen kann, ist in der Lage, mehr Wunder dieser Welt zu entdecken als so manch anderer. Irgendetwas Gutes muss in dir sein, dass dich dazu befähigt.“
    Er blickte auf Harald. Eigenartig, dass dies jener Mensch war, den er als Harlan kennengelernt hatte. Er wirkte jetzt verwandelt.
    „Meinst du nicht, dass alle Bürger unserer Stadt dies entdecken sollten?“
    Harald nickte stumm.
    „Ich schäme mich“, sagte er. „Ich hätte dieses System hier nicht weiterführen dürfen. Ich habe bereits zu erahnen begonnen, dass ich dabei bin, den großen Fehler meines Lebens hier ein zweites Mal zu machen.“
    „Du hast dieses System doch nicht erschaffen.“
    „Nein. Es war schon so, als ich kam. Aber ich habe mich dem angeglichen, habe es mitgetragen, es weitergeführt. Und ich glaubte, ja ich wollte glauben, dass es richtig ist.“
    „Du hast es nicht besser gewusst.“
    „Ich hätte es aber wissen müssen. Gerade ich.“
    „Was für ein Unsinn! Wie solltest du das, wenn du keine Erinnerung hattest? Das Fehlen unserer Erinnerung ist doch Teil unseres Daseins hier.“
    Harald schwieg.
    „Das stimmt“, sagte er.
    „Den Dokumenten, die du aus dem Diesseits mitbrachtest, habe ich entnommen, dass du auch damals nicht nur gehorsam gehandelt hast“, sagte Dankwart.
    „Die Erinnerung daran ist blass“, murmelte Harald, „aber sie ist bereits deutlicher geworden. Ich erinnere mich an eine junge, wunderschöne Frau, die in einem Gefangenenlager misshandelt wurde, von der Art von Mensch, die ich zutiefst hasse. Damals, so schien es mir, war die Welt voll von solchen Menschen. Ein einziges Mörderhaus.
    Die Frau erinnerte mich entfernt an meine Mutter. Sie war Jüdin, wie die meisten Mitgefangenen auch. Ich habe sie – und leider nur sie – aus dem Lager holen lassen. Ihren Peiniger habe ich getötet. Es tat mir nicht leid. Ich würde es jederzeit wieder tun.
    Ich habe ihr damals Papiere besorgt. Sie kam außer Landes, und ich hoffe, dass sie zu ihrem Vater nach Amerika gelangt ist, so wie sie es vorhatte. Sie flehte mich an, ihre Mutter ausfindig zu machen, die ebenfalls interniert war. Dies ist mir leider nicht gelungen.
    Was aus ihr geworden ist, weiß ich nicht.“
    „Ich weiß auch nichts über sie. Aber ich bin sicher, dass deine Tat Gutes bewirkt hat.“

    Gemeinsam gingen sie in den Aussichtsraum. Der Mond stand hoch am Himmel. Die Nacht war kalt, aber klar heute. Selbst die Milchstraße war deutlich zu sehen.
    „Ich frage mich, was wohl passieren wird, wenn das Volk beginnt, zu erwachen“, sagte Harald.
    „Ich vermute, es wird Ihnen ähnlich ergehen, wie uns. Und all denen, die bereits zu erwachen begonnen haben. Sie werden Kontakt aufnehmen zu all denen, die an sie denken und die sie lieben. Dadurch werden sie ihre Angst verlieren, dem Vergessen anheim zu fallen, wie es uns im Tempel so eifrig suggeriert wird. Sie würden wohl entdecken, dass sie dazugehören, nach wie vor. Und sie würden feststellen, dass die Lebenden zu ihnen gehören, ja dass sie sogar jetzt noch den Lebenden etwas geben können, was sie bisher versäumt haben.“
    „Es könnte genauso gut das Chaos ausbrechen.“
    „Warum?“
    „Weil die Menschen schlecht sind. Wenn man ihnen keine Regeln vorgibt, tun sie, was sie wollen. Sie sind rücksichtslos und selbstsüchtig. Wir kehren zurück zu den marodierenden Horden von einst.“
    Dankwart dachte nach.
    „Ja, vielleicht

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