Die schlafende Stadt
eingedrückt. Ein Blutfaden rann aus seiner hängenden Unterlippe.
Roger hob seine gebrochene Hand und winkte ihm zu. Sein Blick war müde und abgespannt. Er wirkte, als habe er sich mit letzter Kraft zu diesem Türrahmen geschleppt.
Robins Herz setzte einen Schlag aus.
Sein Körper fühlte sich mit einem Mal an, als fließe Starkstrom durch ihn hindurch. Seine Zähne klapperten.
Er war verloren!
Jetzt würde alles herauskommen. Roger würde alles erzählen, doof wie er war ließe er sich auch nicht überzeugen, sein dummes Maul zu halten. Wahrscheinlich wusste bereits die ganze Station Bescheid.
Jetzt fühlte er sich wie ein zum Tode Verurteilter vor dem Gang zum Schafott.
Er stieß das Bett, das er gerade schob, wie wahnsinnig von sich.
„He! Hast du einen Knall?“
Sven, der Krankenpfleger, riss das Bett herum und brachte es unter Kontrolle.
„Du hast ja wohl nicht alle Tassen im Schrank! Wir transportieren hier keine Kartoffeln! Los, fass an!“
Robin stand starr wie ein Ölgötze da.
„Hast du nicht gehört? Knalltüte!“
Jetzt löste er sich erst aus seiner Starre. Geistesabwesend ergriff er wieder das Bett.
Sven sagte noch etwas von ‚das solle er ja nicht noch mal machen’ und noch eine ganze Menge mehr, aber Robin hörte nicht. Er überlegte fieberhaft, was er tun sollte, aber ihm fiel nichts ein.
Dann kam die Übergabe. Mit trockenem Mund und feuchten Händen betrat er das Pflegerzimmer. Bereits der Weg dorthin brachte seine Knie zum Schlottern. Er scheute sich, einzutreten, aber er durfte sich nicht auffällig benehmen.
Starrten sie ihn alle an?
Eine merkwürdige, angespannte Stimmung war hier in diesem Zimmer. Er wurde erwartet, er merkte es deutlich.
Stationspfleger Ulrich heftete seine Augen bohrend auf Robin.
Er wusste es. Er wusste alles! Dieser Blick ...
„Was ist, Herr Frauendorff? Mal wieder in künstlerischer Meditation?“
Ulrich genoss sichtlich Robins Panik.
Robin sagte nichts. Er versuchte nur, sein Zittern unter Kontrolle zu halten.
Der Stationspfleger sagte noch irgendetwas, sprach dann in gewohnter Manier über die Patienten, ohne dass Robin in der Lage gewesen wäre, zuzuhören. In seinem Kopf wirbelte es derart, dass er schon wieder gar nichts dachte.
„Was zum Teufel, ist mit Ihnen?“
Robin schrak auf.
Der Raum war leer, die Übergabe war vorbei. Nur noch er saß fröstelnd auf seinem Stuhl. Ulrich stand in der Tür.
„Ist alles okay?“
Vorbei! Die Übergabe war vorbei! Niemand hatte sich um ihn geschert! Er hatte sich alles nur eingebildet! Niemand wusste etwas über ihn und Roger!
Die Erleichterung kam ebenso langsam wie überwältigend. Plötzlich war Robin wieder wach.
„Alles in Ordnung! Tut mir leid, ich fühle mich heute nicht ganz wohl ...!“
Ulrich grunzte kurz und verschwand.
Robin hatte wieder Oberwasser. Noch immer fühlte er sich von seinem Albtraum und seinen Halluzinationen erschöpft, aber die Hauptsache war für ihn, dass er außer Gefahr war. Mit jedem Tag, der verging, würde Gras über alles wachsen, und irgendwann würde es sein, als sei nichts von all dem passiert, was ihm jetzt noch schaden könnte. Klar, in seinem derart übernächtigten Zustand war es kein Wunder, wenn er begann, Gespenster zu sehen. Schwach erinnerte er sich, schon einmal gelesen zu haben, dass Schlafentzug bei allen Menschen Einbildungen hervorrufe. Auch dies beruhigte ihn.
Um Roger machte er sich nun keine Sorgen mehr. Ein Einzelgänger mit einer versoffenen Mutter, die eh nichts mehr kapierte.
Aber nun tauchte ein neuer Gedanke auf. Was wäre, wenn Leni Berthold alles erzählte? Die geballte weibliche Irrationalität brächte dies womöglich zustande, egal wie sein Vater sie eingeschüchtert hatte! Verflucht, konnte man ihn nicht in Ruhe lassen? Sorgen, wohin er sah!
Prompt wurde er wieder nervös. Wer weiß, wie sie den Hergang von allem zu ihren Gunsten verzerrte? Und Berthold, dieser Saubermann, dieser Apostel des Lichtes, der zöge dann gegen das vermeintlich Böse zu Felde.
Er müsste sie mundtot machen. Alle beide.
Ob man sie einschüchtern könnte? Mit Angst, das hatte er von seinem Vater gelernt, konnte man Menschen beherrschen. Nur wie?
Oder ob er sie sich zu Freunden machen könnte? Er könnte Leni um Verzeihung bitten. Das kollidierte zwar mit seinem Stolz und seiner Ehre, aber der Zweck heiligte die Mittel. Und – natürlich hatte er sie wirklich recht hart angefasst.
Er merkte, dass diese Art von Lösung ihm am besten gefiel.
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