Die Schlucht
dass so jemand freiwillig in den Tod gesprungen ist.«
»Mag sein, dass Ihre Mutter geistig nicht ganz gesund war. Deshalb haben Sie sie meiner Meinung nach auch ermordet. Sie konnten es nicht ertragen, dass im Ort über Ihre Familie gespottet wurde.
So etwas kann einen jungen Menschen schwer belasten.«
»Interessante Theorie, Mr Tweed, für die Sie leider überhaupt keine Beweise haben.«
»Glauben Sie? Eine alte Frau hier, mit der wir gesprochen haben, hat genau gesehen, dass jemand Ihre Mutter in die Schlucht gestoßen hat.«
»Sieh mal einer an. Das war die schrullige alte Mrs Grout, die mindestens so verrückt ist, wie meine Mutter es war.«
»Nach diesem Mord haben Sie viele Jahre verstreichen lassen, bis Sie wieder jemanden aus Ihrer Familie umgebracht haben - Ihre beiden älteren Schwestern nämlich, die angeblich nach Kanada und Australien ausgewandert waren. Sie wussten, dass das nicht stimmte, und haben sie in London ausfindig gemacht - und zwar kurz nachdem Lizbeth ebenfalls herausgefunden hatte, wo sie wohnten. Sie haben sie eines Nachts abgepasst, ihnen die Kehle aufgeschlitzt und ihre Gesichter grauenvoll zerstört, damit niemand sie als Ihre Schwestern erkennen konnte.« Tweed hielt inne und ließ seine Worte auf Lance Mandeville wirken, der aber keinerlei Reaktion zeigte.
»Auch Lizbeth, die das Haus zwischen den beiden gemietet hatte, hätten Sie ermordet, wenn sie in dieser Nacht nach Hause gekommen wäre. Aber Lizbeth hat die zwielichtigen Gestalten, von denen Sie sie beschatten ließen, entdeckt und hat die Nacht bei einer Freundin verbracht, bevor sie zu mir ins Büro gekommen ist und mich um Hilfe gebeten hat.«
Lance stieß ein gezwungenes Lachen hervor. »Was Sie da erzählen, sind ja die reinsten Räuberpistolen«, sagte er. »Sie haben nicht den geringsten Beweis.«
»Glauben Sie?« Tweed ging hinüber zum Schachtisch und nahm die schwarze Dame vom Brett. Er begann, an der Figur zu drehen und demonstrierte Lance, dass sie sich in der Mitte aufschrauben ließ. Dann zog er die Hälften auseinander und zeigte ihm einen Korkenzieher mit scharfer Spitze, der im Inneren der Figur verborgen gewesen war.
»Diese Spezialfigur wurde für Sie von einem talentierten Holzschnitzer hier in Gunners Gorge angefertigt. Bestimmt haben Sie ihm erzählt, dass sie ein Geschenk für einen Schachliebhaber sein soll, der gleichzeitig ein Weinexperte ist.«
»Ich kenne diesen Mann nicht, aber vielleicht sollte ich ihn kennenlernen«, sagte Lance mit einem verschmitzten Lächeln. »Wo ist sein Laden?«
»Das wissen Sie nur zu genau, denn Sie waren selbst bei ihm. Er hat eine Kundenkartei, in der er alle seine Aufträge festgehalten hat. Ich brauche mir nur einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss zu besorgen, und der Mann muss sie mir zeigen.«
»Selbst wenn ich die Figur gekauft hätte, würde das überhaupt nichts beweisen«, erwiderte Lance.
»Da wäre ich mir an Ihrer Stelle mal nicht so sicher. Professor Saafeld, der beste Pathologe dieses Landes, hat die beiden Toten eingehend untersucht. Er kann mit Sicherheit sagen, dass die Wunden in ihren Gesichtern von diesem Korkenzieher stammen.«
»Was für ein hanebüchener Unsinn!«
»Sie haben Ihre beiden ältesten Schwestern in London getötet, weil Sie Angst hatten, Ihr Vater würde einer von ihnen seinen Titel vererben. Das hat er schließlich oft genug gesagt.«
»Machen Sie sich nicht lächerlich. Ich wollte den albernen Titel doch sowieso nie haben.«
»Das sagen Sie hier im Haus, aber draußen, bei Ihren vielen Freundinnen, erzählen Sie überall herum, dass Sie der nächste Lord Bullerton sein werden. Ich habe meine Erkundigungen über Sie eingezogen.«
»Sieh mal einer an, Sie spionieren mir also hinterher … Aber egal, was Sie von den albernen Zimtzicken erfahren haben wollen, die sind doch alle bloß sauer, weil ich sie abserviert habe.«
Paula, die sich die ganze Unterhaltung schweigend angehört hatte, war entsetzt über Lance' kaltschnäuzige Abgebrühtheit.
»Na schön, lassen wir das mit dem Titel. Viel wichtiger ist ohnehin das Ölfeld unter dem Black Gorse Moor. Sie haben von Anfang an davon gewusst, und Sie waren es auch, der Neville Guile über unsere Aktivitäten hier auf dem Laufenden gehalten hat.«
»Immerhin hat er mich gut für meine Informationen bezahlt«, erklärte Lance in herablassendem Ton. »Das Leben, das ich führe, ist schließlich nicht billig.«
»Das kann ich mir lebhaft vorstellen«, sagte Tweed.
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