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Die Schmerzmacherin.

Die Schmerzmacherin.

Titel: Die Schmerzmacherin. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Streeruwitz
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Augen und verbot sich, irgendetwas zu sagen. »Ich werde sofort anrufen.« sagte der Onkel. Er werde sofort in London anrufen und alles klären. Ob man jetzt fertig sei, fragte er. Ruhig. Er hielt seinen Führerschein. Er habe nämlich einen wichtigen Termin. Er betonte das wichtig. Der Polizist nickte. Die Polizistin löste ihren Blick und schaute ihren Kollegen an. Sie wandten sich ab. Grüßten. »Grüß Gott.« sagten sie. Im Chor.
    Sie nahm den Onkel am Arm und zog ihn ins Haus hinauf. Grüß Gott. Das war die größte Provokation. Der Onkel grüßte Gott nicht. Das stand ihm nicht zu. Das stand niemandem zu. Schon gar nicht den Vertretern der Staatsmacht. Den Vertretern der Staatsgewalt. Den Vertretern der falschen Staatsmoral. Es war dem Onkel immer schwergefallen, sich mit Beamten zu arrangieren. Das hatte die Tante Trude gemacht. Das war ihre Aufgabe gewesen.
    Im Haus. Er müsse jetzt weg, sagte der Onkel und zog seinen Mantel an. Sie brachte ihm den Autoschlüssel. Was die Marina denn habe. Was passiert sei. Aber es wäre jetzt einmal nicht wichtig. Sie solle niemandem aufmachen. Sie solle im Haus bleiben. Und sie solle die Marina anrufen und das alles klären. Aber er wisse ja, dass es der nur um das Geld ginge. Sie habe den Dominik Ebner getroffen, sagte sie. Ob sie sich bei dem erkundigen sollte, was ihre Situation sei. »Ach. Die Ebners.« Er wickelte den Schal sorgfältig um den Hals. Da hätte es einen Skandal gegeben. Die wären irgendwie an diesem Bankendeal beteiligt gewesen, der jetzt die Staatsanwaltschaft interessiere. Er glaube nicht, dass man noch einmal etwas davon hören würde. Aber die Klienten hätten reagiert, und da hätte es noch einmal Schwierigkeiten gegeben. Krisen halt. Aber sie wisse ja, wie wenig ihn das interessiere. Jedenfalls glaube er nicht, dass sie einen Rechtsanwalt bräuchte. Er käme in 2 Stunden spätestens. Sie küsste ihn auf die Wange. »Und.« sagte er. »In Österreich herrscht Ausweispflicht. Du musst immer einen Ausweis bei dir haben. Da sind wir noch gut davongekommen, dass die dich nicht mitgenommen haben. Dann hätten wir zum Dr. Seidler gehen müssen. Deinen Freund Ebner. Den brauchen wir hier nicht.« Er schüttelte den Kopf. Angewidert.
    Er solle vorsichtig fahren. Der Onkel blieb in der Tür einen Augenblick stehen. Er dachte nach. Wollte etwas sagen. Dann lächelte er ihr zu und ging hinaus. Sie konnte ihn sehen, wie er im Auto den Sitz zurückschob. Sie ging ins Wohnzimmer und schaute in den Garten hinaus. Sie stellte sich an das Fenster. Sie setzte sich auf die Couch. Sie setzte sich in einen Fauteuil. Stand wieder auf. Ging auf und ab. Die Unruhe um ihren Nabel tobend. Sie konnte nicht stillsitzen. Das Wohnzimmer. Unverändert. Alles genauso wie damals. Als sie das Kind im Haus gewesen war. Die venezianische Gondel im Bücherregal. Die Puppensammlung. Die »Reader’s-Digest«-Hefte. Die »Time-Life«-Bücher über ferne Länder, Wissenschaft und Kunst. Über die Eroberung des Nordpols und des Südpols und des Himalaja. Über Krankheiten und den menschlichen Körper. Aber sie hatten das nie gelesen. Diese Bücher waren angekommen, und sie waren von außen bewundert worden. Gelesen wurden sie nicht. Der Onkel las nur die Bibel, und die Tante hatte diese anderen Bücher bestellt. Aber das war ihr genug gewesen. Sie hatte sie dann nicht gelesen. Die Bücher standen in den Bücherregalen der Wohnwand. Die Puppen dazwischen. Alles die Tante Schottola. Ihre Verschwendung, und viel darüber geredet werden hatte müssen. Diese Bücher. Eines von diesen Büchern zu lesen. Wenn sie eines dieser Bücher aufmachte. Sich hinsetzte und zu lesen begänne. Sie blieb am Fenster stehen. Da konnte sie sich gleich erschießen. Sie konnte sich sehen. Das Einschussloch in der Schläfe. Sie hätte sich nie in den Mund schießen mögen. Aber in die Schläfe. Und wie sie hinfiel. Wie sie da hingefallen wäre, in dasselbe Nichts wäre sie mit so einem Buch gefallen. Sie wäre in diesem Text zu liegen gekommen. Wie tot. Sie hätte über die Schwierigkeiten gelesen, wie so eine Polarexpedition auszustatten wäre, und wäre tot gewesen. Hätte sich totgelesen. Wenn sie nur eines der »Reader’s-Digest«-Heftchen öffnete und einen dieser Ratschläge läse, wie sie ihrem Leben einen Sinn verleihen könnte. Sie hätte sich liegend in der vollkommenen Sinnlosigkeit gefunden. Und es war nicht ihre. Es war nicht ihre Sinnlosigkeit. Sie war lebenslustig. Gerade in diesem Haus hatte es

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