Die Schnapsstadt
bemitleidenswert in einem. Er strich ihr über den Handrücken und sagte mit echtem Mitgefühl: «Mädchen, du kannst Onkel zu mir sagen.»
«Du bist ein Lügner», sagte sie. «Du hast mir erzählt, du arbeitest bei der Fahrzeugkontrolle.»
Er lachte. «Na und?»
«Du bist ein Agent.»
«Kann schon sein.»
«Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dich nicht mitgenommen.»
Ding Gou'er zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche und warf es ihr in den Schoß. «Schon gut. Bloß keine Aufregung!»
Sie warf seine Schnapsflasche in den Straßengraben. «Kein normaler Mensch trinkt aus so einem winzigen Ding.»
Ding Gou'er sprang aus dem Wagen, knallte die Tür zu und machte sich auf den Weg. Er hörte, wie die Lastwagenfahrerin hinter ihm herrief:
«He, Agent! Weißt du, warum die Straße hier so beschissen ist?»
Ding Gou'er drehte sich um und sah, wie sie sich aus dem Fahrerfenster hängte. Er lächelte, aber er antwortete ihr nicht.
Das Gesicht der Lastwagenfahrerin blieb einen Augenblick lang wie die Schaumkrone auf einem Bierglas im Gedächtnis des Ermittlers hängen. Dann löste es sich vom Rand her auf, um schließlich ganz zu verschwinden Der schmale Schotterweg drehte und wand sich wie der Verdauungskanal eines Menschen. Lastwagen, Traktoren, Pferdegespanne, Ochsenwagen, Fahrzeuge jeder Art und Größe verstopften ihn wie eine Marschsäule von Fabeltieren, jedes an den Schwanz seines Vordermannes gefesselt und alle eng aneinander gepresst.
Ein paar hatten den Motor abgestellt, andere ließen ihn im Leerlauf röhren. Blassblauer Qualm strömte aus den Auspuffrohren der Lastwagen. Der Geruch von Benzinrückständen und Dieselöl verband sich mit dem Gestank des Atems von Ochsen, Pferden und Eseln zu einer erstickenden Dunstwolke. Gelegentlich musste der Ermittler sich seinen Weg eng an den Fahrzeugen entlang bahnen Zwischendurch musste er sich an den niedrigen verwachsenen Bäumen am Straßenrand vorbeidrängen. Fast alle Fahrer saßen in ihren Fahrerhäusern und tranken. Gab es da nicht ein Gesetz gegen Alkohol am Steuer? Aber diese Fahrer tranken, also konnte es das Gesetz nicht geben, zumindest galt es wohl hier nicht. Als er das nächste Mal aufblickte, war die Förderhaspel, die am Zechentor gen Himmel ragte, schon zu zwei Dritteln sichtbar.
Ein graues Stahlkabel lief quietschend über die Förderhaspel. Im Sonnenschein glänzte das Eisengestell dunkelrot. Entweder war es rot lackiert, oder es war einfach rostig. Eine schmutzige Farbe, ein ganz verdammt schmutziges dunkles Rot. Die gewaltige Seiltrommel war schwarz; das Stahlkabel, das über sie lief, strahlte ein gedämpftes und dennoch erschreckendes Glitzern aus. Seine Augen nahmen die Farben und das strahlende Licht auf, das Quietschen der Trommel, das Stöhnen des Kabels und der dumpfe Klang unterirdischer Detonationen liefen Sturm gegen seine Ohren.
Den ovalen Platz vor dem Zechentor säumten in Pagodenform geschnittene Krüppelkiefern. Die Lastwagen, die auf ihre Ladung warteten, standen dicht gedrängt. Ein schlammbedeckter Esel hatte sein Maul in die Nadeln einer Kiefer gesteckt. Entweder wollte er einen kleinen Happen zu sich nehmen, oder seine Lippen juckten, und er wollte sich kratzen. Eine Gruppe von schmutzigen, rußbedeckten Männern mit zerfledderten Kleidern, um den Kopf gebundenen Schweißtüchern und Hanfstricken anstelle von Gürteln saßen dicht gedrängt in einem Pferdewagen. Das Pferd fraß aus seinem Futtersack, die Männer tranken aus einer großen purpurfarbenen Flasche, die sie mit Genuss von Mund zu Mund gehen ließen. Ding Gou'er war kein großer Trinker, aber er trank gern, und er konnte anständigen Schnaps von billigem Fusel unterscheiden. Der stechende Geruch, der in der Luft lag, verriet, dass die purpurfarbene Flasche billigen Schnaps enthielt, und als er die Männer ansah, die ihn tranken, schloss er, dass es sich um Bauern aus dem Umland von Jiuguo handeln musste.
Er stand neben dem Pferd, als ihm einer der Bauern mit rauer Stimme zurief: «Genosse, wie spät ist es auf deiner Armbanduhr?»
Ding hob den Arm, warf einen Blick auf die Uhr und verriet dem Typ die Zeit. Der Bauer hatte blutunterlaufene Augen und wirkte bösartig und gefährlich. Dings Herz setzte für einen Schlag aus. Er beschleunigte seinen Schritt.
Von hinten hörte er den Bauern fluchen: «Sag den Armleuchtern am Tor, sie sollen endlich aufmachen.»
Irgendetwas an der verärgerten und unfreundlichen Aufforderung des jungen Bauern war
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