Die schöne Ärztin
legten sie auf die zweite Trage und fuhren Mutter und Kind auf Weisung Dr. Sassens hinaus zu den Hügeln in die Villa des Direktors. Dort legte man sie in die Schlafzimmer. Waltraud Born erbot sich, die Nachtwache zu übernehmen. Am Morgen sollte dann ein Facharzt aus Gelsenkirchen die gründliche Untersuchung vornehmen.
In der großen Bibliothek standen alle an der Rettung Olivers beteiligten Männer herum und fühlten sich denkbar unwohl. Sie genierten sich, mit ihren schmutzigen Stiefeln auf den dicken Orientteppichen zu stehen; der ungewohnte Luxus, der sie umgab, machte sie verlegen und unsicher. Auch als das Hausmädchen Kognak in Napoleongläsern herumreichte, hielt man die Gläser in den Händen und wagte nur zögernd, zu trinken. Allein schon das große, in das Glas gravierte N irritierte sie. Jetzt 'n Korn und ein Pils, dachten sie, das wäre besser. Ein Doppelstöckiger.
Dr. Sassen kam aus dem Schlafzimmertrakt zurück und winkte nach allen Seiten, Platz zu nehmen.
»Meine Herren«, sagte er, und seine Stimme zitterte noch immer von der nicht voll abgeklungenen Erregung, »ich stehe tief in Ihrer Schuld.«
»War doch nur unsre Pflicht, Herr Direktor«, sagte einer der Rettungswagenfahrer.
»Trotzdem.« Dr. Sassen blickte voll Kurt Holtmann an. »Ich habe vieles gutzumachen. Ich habe ein Bild umzumalen.« Er lächelte, als er die verständnislosen Gesichter sah. »Sie werden es nicht verstehen, bis auf einen von Ihnen.« Er legte die Hände auf den Rücken und versuchte, einen burschikosen Ton zu treffen. »Ich bin zwar keine Märchenfee, aber wenn ich jetzt zu Ihnen sage, Sie dürfen sich etwas wünschen, so ist es mir ernst damit. Natürlich keinen Mercedes 220, aber wer etwas auf dem Herzen hat, soll es jetzt sagen. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen anders danken kann. Sei es Urlaub, sei es ein Kredit, ich weiß ja nicht, was Sie sich heimlich wünschen.«
Die Männer in den schmutzigen Anzügen und Schuhen sahen verlegen auf den Teppich. Wünsche, dachten sie. O Gott, wenn du wüßtest, was wir uns alles wünschen. Wie beschissen es oft auf der Zeche ist. Da ist der Obersteiger Krugmann. Ein verhinderter Militärspieß. Der brüllt wie aufm Kasernenhof. Und dann der Schießsteiger Kowalski. Ein Saukerl. Dreimal war er schon besoffen auf Sohle – aber so was verrät man ja unter Kumpeln nicht. Beim letztenmal hat er die ganze Schießkiste vollgekotzt. Und dann die Großfresse von Bruno Pichalke. Betriebsobmann nennt er sich. Den Gewerkschaftsfunktionären kriecht er in die Hose, aber wenn man zu ihm mit Wünschen oder Beschwerden kommt, brüllt er: Leute, belästigt doch die Verwaltung nicht mit solchem Mist! Wir haben andere Sorgen! Und dann – ein Wunder, daß der nicht dauernd mit 'nem blauen Auge rumläuft – der Friedrich Hamfeldt vom Personalbüro. Urlaub oder 'n paar Stunden frei, etwa, weil Victoria, die Ziege, operiert werden muß, einen Klotz von Furunkel hat sie am Bauch, nee, das ist nicht drin. Was sagt der Hamfeldt? »Schaff dir 'nen Kanarienvogel an, der kriegt keine Furunkel! Wegen 'ner Ziege Urlaub. Bei dir piepst's wohl?« Aber das alles kann man ja einem Direktor nicht sagen. Das sind ja alles keine Anliegen, die er hören will. Was soll man sich da wünschen? Vor allem, wenn man so plötzlich darauf angesprochen wird.
»Wunschlos glücklich?« Dr. Sassen versuchte ein auflockerndes Lachen. »Gut, machen wir es anders. Wie wäre es, wenn wir uns alle – mit Ihren Frauen natürlich – am nächsten Sonntag zu einem privaten Ausflug treffen. Ich lade Sie alle als meine Gäste ein.«
Die Männer nickten, und die Kognakgläser mit dem goldenen, eingravierten N nickten mit. Auch das noch, dachten sie dabei. Ausflug mit dem Chef. Erna im Seidenen, wir im blauen Anzug, keiner wagt einen Mucks zu sagen, alle lachen über die Witze des Chefs, beim Essen wird zum Alten geschielt und unter dem Tisch dem Kollegen ans Schienbein getreten: Mensch, friß nicht so viel! Das gehört sich nicht! Benimm dich, leck das Messer nicht ab, und laß die Politur aufm Teller! Und schöpf dir den Teller nicht so voll wie zu Hause, das gehört sich nicht! Das sieht verfressen aus! Und das Schmatzen laß auch sein! Guck mal, wie sich der Chef benimmt … der nimmt jedes Goulaschstückchen einzeln auf die Gabel.
Ein gemütlicher Sonntag stand bevor.
»Einverstanden?« fragte Dr. Sassen. Er freute sich ehrlich auf diesen Ausflug mit seinen Leuten.
»Einverstanden«, antwortete ein dumpfer, durchaus nicht
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