Die schoene Frau Seidenman
Intelligenz aufgewachsen, ihr Vater war zwar der Augenarzt armseliger Juden gewesen und unermüdlich durch die rachitischen, dumpfigen Hinterhöfe gezogen, die Treppen feuchter, dunkler jüdischer Hinterhäuser hinaufgestiegen, er hatte die rotznäsigen, schmutzigen jüdischen Kinder im Stadtteil der Armut und Erniedrigung verarztet, doch war er selbst ein aufgeklärter, gebildeter und gut situierter Mensch gewesen, für den die eigene Zugehörigkeit so auf der Hand lag, daß er ihr keinen unsicheren und quälenden Gedanken widmete; und ähnlich hatte ihr Mann empfunden, Dr. Ignacy Seidenman, ein hervorragender Röntgenologe mit wissenschaftlichen Aspirationen, Schüler exklusiver Schulen, Absolvent der Universitäten von Montpellier und Paris, ein Mann von Welt, der echteste Europäer, mit dem sie je in Berührung gekommen war; diese beiden Menschen, Vater und Mann, hatten sie geformt, hatten aus ihr ein Mädchen, ein heiratsfähiges Fräulein, schließlich eine Frau gemacht, frei von allen sich aus Fragen der Religion und der Rasse ergebenden Schwankungen und Beunruhigungen, fern jedem Judentum, mit dem sie nur die vage Erinnerung an einen bärtigen Greis verband, der zu ihr, dem kleinen Kind, in unverständlicher Sprache gesprochen und ihr mit knotiger Hand die Backe gestreichelt hatte, die Erinnerung an ihren Großvater. Er starb, als sie vielleicht fünf oder sechs Jahre alt war, ein Jude aus längst vergangenen Zeiten, der sie gleichgültig und schmerzlos mit der geheimnisvollen Abstammung verband, mit der geheimnisvollen Aura des Judentums, das sie zwar auf der Straße umgab, das sich manchmal mit den Mißtönen des Antisemitismus bemerkbar machte, was aber nur am Rande ihres Lebens geschah, weil sie blauäugig und blond war, eine schöne Frau mit bezauberndem Lächeln und schlanker Figur. Das Judentum hatte nichts mit ihr zu tun, es existierte gesondert, ohne sie und jenseits von ihr, jenseits des Sinns ihres Daseins, vorhanden zwar, aber doch fremd. Nie in ihrer Vergangenheit hatte sie Bindungen zum Judentum empfunden, das wußte sie mit absoluter Gewißheit! Doch vielleicht hatte sie gerade aus diesem Grunde auch keine Bindungen zum Polentum empfunden, weil das Polentum für sie wie die Luft war, die sie atmete, ganz einfach selbstverständlich. Und erst jetzt, während sie unter dem wachsamen Blick dieses skurrilen Menschen in Pumphosen und Schnürstiefeln die Milch trank, machte sie sich klar, daß das Polentum der Wert ihres Lebens, daß sie Polin sei und zu Polen gehöre. So hatte sie nicht einmal in dem Käfig auf der Schuch-Allee gedacht. Da hatte sie nur an das verdammte Zigarettenetui gedacht, an das unselige Zusammentreffen der Umstände, das sie das Leben kosten würde. Dort auf der Schuch-Allee hatte sie sich weder als Jüdin noch als Polin gefühlt, vielleicht war sie mehr gewesen, nämlich ein zum Tode verurteilter Mensch, zugleich ein vom Schicksal unbestimmter und unvollendeter oder vielmehr im eigenen Bewußtsein unbestimmter und unvollendeter Mensch, weil sie infolge des Silberetuis litt, weil dieser Gegenstand, wie sie meinte, ihr Leben bedrohte, nur er und sonst nichts! Sie sollte weder als Jüdin noch als Polin sterben, nicht infolge ihrer verbrecherischen rassischen oder nationalen Zugehörigkeit, sondern als Opfer einer Verquickung idiotischer Irrtümer, zerschmettert von einem leichten Gegenstand, durch ihr sentimentales Gefühl für eine Erinnerung an ihren verstorbenen Mann. Und erst jetzt, in Dr. Kordas Anwesenheit, während die Vögel vor dem Fenster sangen und sie die warme Milch trank, durchlebte sie ihre Befreiung, bestimmte sie sich selbst, fand sie ihre Zugehörigkeit wieder.
In Zukunft sollte sich herausstellen, daß die Wahl, die sie damals unter dem zärtlichen und wachsamen Blick des Cicero- und Tacitus-Liebhabers vollzogen hatte, falsch gewesen war, auf jeden Fall zweifelhaft. Nicht für sie. Für andere. Als sie Warschau verließ, erinnerte sie sich nicht an Dr. Korda und das Töpfchen mit der Milch. Doch hätte Gott ihr damals erlaubt, sich der Jahre zurückliegenden Geschehnisse zu erinnern, so hätte sie ganz bestimmt gewußt, daß sie Warschau entgegen Dr. Kordas Willen und Wunsch verließ, daß Dr. Kordas in der Ewigkeit weilender Geist bitter weinen und sich bei seinem Schöpfer beklagen würde. Doch die Toten entschieden nicht über ihr Schicksal.
Nach vielen Jahren, in der Fremde verloren, etwas lächerlich wie die Mehrzahl der alten und einsamen Frauen,
Weitere Kostenlose Bücher