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Die schoene Frau Seidenman

Die schoene Frau Seidenman

Titel: Die schoene Frau Seidenman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Szczypiorski
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das gehörte zu seiner Würde.
    Der Trab des Wallachs ging jetzt in freien Galopp über. Erdklumpen und Steine spritzten unter den Hufen zur Seite. Stuckler dachte nicht mehr an den Sattelgurt, der im übrigen gut hielt, er dachte vielmehr, wenn Deutschland den Krieg verlöre, würde sich Europa von seinem Fall höchstwahrscheinlich nie wieder erholen. Das Erbe würde vernichtet. Eine barbarische Ära wäre die Folge. Stuckler sah sich selbst nicht in dieser Landschaft. Er sah auch sich selbst nicht mit zerbrochenem Schwert, einen Strick um den Hals, dem zottigen Pferd eines Hunnen nach Osten folgen. Dennoch stand ihm etwas ähnliches bevor. Zwar trug er weder Sandalen noch Schild, auch spürte er keinen Strick um den Hals, aber er ging inmitten vieler anderer deutscher Kriegsgefangener nach Osten, und dicht neben ihm ritten Rotarmisten auf kleinen, flinken Pferden. Er ging viele Wochen lang und fuhr dann auf offener Eisenbahnlore durch die endlose Steppe. Zum Schluß fand er sich hinter dem Stacheldraht eines Lagers am Ob wieder. Er rodete jahrelang sibirische Wälder, wurde immer schwächer und verwilderte, bis er schließlich starb; seine Leiche wurde in eine tiefe Grube geworfen, die kurz danach ewiger Frost überzog. Sterbend bedauerte er seine Sünden nicht, weil er überhaupt nicht mehr an Gott glaubte. Vielleicht wußte er nicht einmal mehr, daß er Deutscher war, Mitglied der NSDAP und Offizier des ReichsSicherheitsdienstes. Lange Wochen vor seinem Tode dachte er nur noch ans Essen.
    Auch damals hätte er sagen können, so sei es immer. Wenn er das nicht sagte, so bestimmt aus Mangel an physischer und geistiger Kraft, die zu solchen Schlußfolgerungen nötig ist. Er starb vor Hunger und Erschöpfung, jenseits aller Moral und ethischen Bewertung, wozu man zweifellos eine gewisse Anzahl von Kalorien benötigt. Im Grunde war das Schicksal ihm gnädiger als allen jenen, die wie er starben, doch etwas früher und aus seiner Schuld. Stucklers Vorgänger waren nicht hungrig und verwildert genug, um die auf ihren Schultern ruhenden Jahrhunderte der Kultur zu vergessen. Sie waren immer noch imstande, Schlüsse zu ziehen, Situationen zu beurteilen und der Welt Gerechtigkeit widerfahren zu lassen gemäß den Normen und Prinzipien, die man ihnen in besseren Zeiten eingeimpft hatte. Zwar empfanden sie den Tod manchmal als Befreiung von ihren Leiden, starben aber im allgemeinen in dem Bewußtsein, Opfer der Tyrannei, des Verbrechens und der Niedertracht der Welt zu sein. Stuckler hungerte zu lange, um am Ende überhaupt noch etwas zu verstehen. Die letzten Monate seines Lebens verliefen nur zur Hälfte in wachem Zustand, sie waren zur Hälfte der Traum eines kranken und stummen Tiers. Gewiß erinnerte er sich nicht einmal an seinen Namen, geschweige denn an seine Taten. Er starb ohne Reue und Bewußtsein, wußte also nicht, daß dieser Tod die Strafe für das Böse war, dessen er sich anderen Menschen gegenüber schuldig gemacht hatte. In diesem Sinne erwies sich die Erziehung am Ufer des Flusses Ob als verfehlt, mindestens im Falle Stuckler. Hätte man ihn vor ein Gericht gestellt, seine Argumente gehört, ihn mit Zeugen konfrontiert und anschließend bestraft, wie das mit manchen seiner Waffenkameraden geschah, so hätte er vielleicht die Chance gehabt, Reue für die Sünden zu beweisen, die er verstand oder nur zur Kenntnis nahm. Aus dem Umkreis der Zivilisation geworfen, die ihn ins Leben gerufen, die seine Mentalität und seinen Charakter geformt hatte, zu langem Vegetieren zwischen Mensch und Tier verurteilt, wurde er zum gedankenlosen Gespenst jenseits der Sphäre moralischer Bewertungen und Entscheidungen. Sogar in dieser Hinsicht hatte die Menschheit keinen Nutzen von ihm. Er selbst allerdings hätte noch einmal sagen können, so sei es immer.
    Der Hand seines Reiters gehorchend, blieb das Pferd stehen. Eine weiße Wolke verdeckte die Sonne. Der grüne Rasen nahm eine violette Färbung an. Rund um Stuckler war es leer. Nur die Gegenwart, dachte er. Er mochte die Erinnerung nicht. Vielleicht nicht einmal das Leben. Die Vergangenheit mochte er. Dort fand er sich selbst als Symbol, als Zeichen. Mehr noch, er schöpfte aus der Geschichte die Überzeugung, er nehme an einer Fortsetzung teil, er habe, wenn auch nicht in körperlichem Sinne, vor langer Zeit begonnen, als Sohn und Enkel von Müllern aus der Umgebung von Saalfeld, Mitglied der Bewegung, Offizier und Reiter auf einem schönen Grauschimmel, auf violettem

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