0510 - Der Leichenzug
Jeder Spur ging er nach. Er kannte die Tricks, war raffiniert genug, um den Fallen der Vampire zu entwischen und hatte – dank seiner Waffe – schon mächtig unter diesen Wesen aufräumen können.
Marek und ich hatten uns lange Zeit nicht gesehen. Sein Haar war noch grauer geworden, das Gesicht hagerer, die Haut war vom Leben gezeichnet, so daß die Falten auf ihr wie eine Landkarte wirkten. Auch eine gewisse Härte lag permanent auf den Zügen, doch die Augen zeigten nicht die Müdigkeit des Alters. Nach wie vor blickten sie scharf und unternehmungsvoll. In diesem Blick las der Betrachter, daß Frantisek Marek innerlich jung geblieben war.
Zum Schutz gegen die herbstliche Kühle trugen wir dicke Jacken und auch die entsprechenden Hosen. Der Boden war feucht, das Gras glänzte vor Nässe.
Die Gegend war waldreich, auch sehr einsam. Nur wenige Orte lagen verstreut in der Landschaft. Petrila, Mareks Heimatort, lag einige Kilometer entfernt. Ich war mit einem Leihwagen gekommen, um den alten Freund zu treffen.
Wie schon so oft ging es um Vampire, das jedenfalls hatte Marek in seinem Telegramm an mich berichtet. Details hatte ich später erfahren. Ich wußte nicht, daß es sich nicht allein um die Blutsauger drehte, auch um einen Zug, der von Marek Leichenzug getauft worden war.
Auf ihn warteten wir!
»War er schon pünktlich?« fragte ich den neben mir liegenden Freund.
»Eigentlich ja.« Marek verzog die schmalen Lippen zu einem knappen Lächeln. »Aber du kannst die Pünktlichkeit in unserem Land nicht mit der in deinem vergleichen.«
»Das habe ich mir gedacht.«
»Wir müssen warten, bis es dunkel ist.«
»Richtig finster?«
»Manchmal.«
Das war mir alles zu vage. Ich drehte mich um und stand auf. Auf dem schrägen Bahndamm hatte ich etwas Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Ich hielt mein Gesicht gegen den Wind. Er brachte einen typischen Herbstgeruch mit.
Den von allmählich verfaulendem Laub, den Geruch von Tod und Verwesung. Die Natur starb, sie legte sich hin zur langen Winterstarre, um erst im Frühjahr wieder zu erwachen. Geschneit hatte es hier noch nicht, doch im November, ungefähr eine Woche später, würden die ersten Flocken schon fallen.
»Wo willst du hin, John?«
Ich stellte den Kragen der Jacke hoch und deutete auf den Damm.
»Da schaue ich mal nach.«
»Der Zug wird schon kommen.«
»Das weiß ich. Trotzdem.« Ich stiefelte schräg die Hälfte des Dammes hoch, erreichte seine Oberseite und kam mir vor wie ein Telegrafenmast in der Einsamkeit einer traurigen Landschaft.
Der Blick nach vorn war frei. Hinter mir lief der Schienenstrang in eine Kurve.
Mein Blick fiel auf das Gleis. Über den Damm lief nur ein Paar.
Das Metall zeigte an den Seiten einen dicken Roststreifen, nur auf der Oberfläche schimmerte ein matter Glanz. Ein Beweis dafür, daß hin und wieder ein Zug vorbeifuhr.
Von Marek hatte ich erfahren, daß diese Strecke längst stillgelegt worden war. Der Zug, auf den wir warteten, durfte oder konnte normalerweise nicht verkehren.
Wie das allerdings genau zusammenhing, hatte mir Marek auch nicht erklärt. Ich sollte mich halt überraschen lassen.
Es war noch nicht völlig dunkel geworden. Die Dämmerung kroch von den Bergen herab. Sie kam mit ihren langen Schatten und schien aus den grauen Wolken zu fließen.
Auch den Bahndamm und den Gleiskörper ließ sie nicht aus. Das Metall verschwamm im hochwachsenden Gras, das der Wind regelrecht kämmte.
»Kannst du etwas sehen, John?«
»Nein, noch nicht.«
»Ich sage ja, es dauert noch etwas.«
Marek bekam von mir keine Antwort, weil ich mich bückte und mein Ohr auf die Schiene legte. Auf diese Art und Weise war zu erfahren, ob sich ein Zug näherte.
Manchmal »singen« die Schienen.
Das war auch hier der Fall. Ich vernahm irgendwelche Geräusche.
Nur konnte ich nicht herausfinden, ob sie von einem heranfahrenden Zug stammten oder nicht.
In dieser Haltung blieb ich einige Zeit, gewöhnte mich auch an das »Singen« und mußte zugeben, daß es von einem anderen Klang überdeckt wurde. Einem akustischen Vibrieren.
Sicherheitshalber wartete ich ab, bis ich mich wieder erhob und Marek neben mir stehen sah.
»Hast du was gehört?«
»Ja, er muß unterwegs sein.«
Der Pfähler lächelte. »Das ist gut, John. Ich habe es dir ja gesagt. Er wird kommen.«
»Zum Glück.«
Marek zerrte mich am Arm. »Komm wieder in Deckung! Es ist besser. Wir müssen aufspringen.«
»Wir?« Ich schaute ihn erstaunt an.
»Klar. Oder
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