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Die schoene Frau Seidenman

Die schoene Frau Seidenman

Titel: Die schoene Frau Seidenman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Szczypiorski
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oder morgen könne sie sich wieder in dem Käfig auf der Schuch-Allee, im Pawiak oder an der Erschießungsmauer befinden, packte sie Angst. Sie zog sich die Decke über den Kopf und lag reglos da, mit klappernden Zähnen, atemlos, erst jetzt getötet, mit raffinierter Grausamkeit gequält. Sie spürte ein Rinnsal Schweiß an den Schläfen, ihr Rücken war naß, die klebrige, dunkle Angst würgte sie, als sollte sie erst jetzt auf die Schuch-Allee kommen, in den Käfig, in Stucklers Zimmer, als sollte sie erst in einigen Stunden Bronek Blutman treffen. Nein, sagte sie sich, das halte ich nicht aus! Das ist doch schon geschehen, das wird sich nicht wiederholen.
      Da klingelte es an der Tür. Sie holen mich doch noch, dachte sie, gestern haben sie mich losgelassen, jetzt sind sie gekommen. Plötzlich verflog alle Angst. Ja, dachte sie, das Ende. Jetzt sind sie gekommen, mich umzubringen.
      Sie stand auf und zog den Morgenrock über. Es klingelte erneut. Warum treten sie nicht gegen die Tür, dachte sie, soviel bin ich doch nicht wert, daß sie meinetwegen Zeit verlieren.
      Sie näherte sich der Tür und schaute durch das Guckloch. Draußen stand Dr. Adam Korda, der klassische Philologe. Er ist verrückt geworden, dachte Irma kühl, warum kommt er so früh? Als sie die Tür öffnete, lächelte der klassische Philologe befangen und sagte: »Verzeihen Sie bitte, liebe gnädige Frau, daß ich Sie zu dieser Zeit aufsuche, aber ich habe Sie gestern aus der Stadt zurückkehren sehen und die ganze Nacht kein Auge zugetan. Mein Gott, Sie haben Schreckliches durchgemacht. Ich komme, um Ihnen meine Hilfe anzubieten, wenn Sie…«
    Er brach ab und räusperte sich. Er stand auf der Schwelle in grauen Pumphosen und dunklem Jackett mit ausgelegtem Hemdkragen, in sauber geputzten Schuhen, mit dem Gesichtsausdruck eines würdevollen Idioten. In der Hand hielt er ein kleines Töpfchen.
      Sie hatte Lust aufzuschreien, ihn ins Gesicht zu schlagen oder vor Erleichterung und Verzweiflung in Tränen auszubrechen. Und sie brach in Tränen aus, weil ihr gerade noch rechtzeitig einfiel, daß dieser Mensch sie gerettet, die Hilfsaktion der anderen in Gang gesetzt hatte, daß er das erste und der alte Müller das letzte Glied in der Kette gewesen war. Sie brach in Tränen aus, und Dr. Adam Korda sagte mit heiserer Stimme: »Ich habe mir erlaubt, etwas Milch warm zu machen. Milch wirkt beruhigend.«
    Später saßen sie im Wohnzimmer auf den mit blaßgrünem Samt bezogenen Sesseln aus heller Esche, an dem Eschenholztisch, auf den der klassische Philologe idiotischerweise das Töpfchen mit der Milch gestellt hatte. Einige Augenblicke saßen sie schweigend im bernsteingelben Halblicht des Morgens, das durch die schweren Fenstervorhänge in das Zimmer sickerte. Man hörte die Vögel singen. Irma Seidenman rieb sich die Augen. Sie sagte: »Ich vermag Ihnen nicht zu danken. Ich kann das nicht ausdrücken…«
      »Sie sollten die Milch trinken«, antwortete er. »Ich glaube, ich bin ein bißchen zu früh gekommen. Aber ich war wirklich sehr unruhig.«
      Er begann, von seiner Unruhe zu reden und erzählte ihr von seinem Besuch bei Herrn Pawełek. Da begriff sie, daß ihre Rettung das Ergebnis von Bemühungen und Ängsten vieler Menschen gewesen war. Hätte ein Glied versagt, wäre sie verloren gewesen. Mein Gott, dachte sie, ich habe geglaubt, eine einsame, ungeliebte Frau zu sein. Ich habe mich geirrt. Ich bin nicht allein. Hier ist niemand allein.
    Während sie unter Dr. Kordas Augen die Milch trank, barfuß, mit tränennassem Gesicht, bebend in der Kühle der frühen Stunde, überkam sie zum ersten Mal im Leben die freudige Gewißheit, daß dies ihr Land war mit nahen und geliebten Menschen, denen sie nicht nur ihre Lebensrettung verdankte, sondern auch ihre gesamte Zukunft. Noch nie hatte sie so tief und schmerzlich ihre Zugehörigkeit zu Polen empfunden, noch nie hatte sie mit so bitterer Freude und Hingabe an ihr Polentum gedacht. Polen, dachte sie, mein Polen. Diese Menschen – das ist Polen. Dieser brave, unbeholfene Mensch in Pumphosen – das ist Polen, das Heiligste unter der Sonne, das ich besitze. Durch ihr Herz flutete die Dankbarkeit dem Schicksal gegenüber, weil es sie zur Polin gemacht hatte, weil sie gerade hier, an dieser Stelle, unter diesen Menschen leiden und überleben mußte. Sie hatte in der Vergangenheit keine Bindung an ihr Judentum empfunden, sie war im Milieu der alten, seit Jahrzehnten assimilierten

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