Die schöne Rächerin
beiden stehen. Kurts zerklüftetes, vernarbtes Gesicht anzusehen, fiel Rose immer noch schwer, auch wenn er ihr mittlerweile so vertraut und tröstlich erschien wie die schäbige Einrichtung des Trainingsraums.
Der Mann grunzte Collis an und bedachte Rose mit einem stechenden Blick, der ihr zeigte, dass er ihre instinktive Fluchtbewegung sehr wohl gesehen hatte.
Aber Collis nicht, dem Himmel sei Dank. Rose reckte trotzig das Kinn. Sie durfte Collis nicht als einen gewöhnlichen Mann betrachten, der vielleicht Gefallen an einem gewöhnlichen Mädchen fand. Sie durfte nicht zulassen, dass der Gedanke an ihn sie mitten im Training ablenkte.
Collis rollte sich herum und benutzte den guten Arm, um sich von der Matte hochzustemmen. Rose tat einen Schritt auf ihn zu, streckte ihm einmal mehr die Hand hin.
Collis hob den Kopf, als er ihre Schritte über die Strohmatte rascheln hörte. Sie glaubte, kurz einen schmerzlichen Zug auf seinem Gesicht zu erkennen, bevor er ein neckisches Grinsen aufsetzte. »Der Punkt geht an Sie, Wildrose.«
Rose fuhr zusammen und fühlte sich an ihre Herkunft erinnert. Wildrose - ein Unkraut, eine Plage für jeden respektablen Garten. Sie reckte das Kinn, und ihre Augenbrauen zogen sich auf die hochmütige Höhe, die sie sich bei den feinsten britischen Butlern abgeschaut hatte. »Wer hätte das gedacht?«, sagte sie gedehnt in ihrer besten Oberklassenimitation. »Blaublüter bluten immer noch rot.«
Collis hob die Knöchel an die gespaltene Lippe, fing einen Blutstropfen auf und betrachtete den roten Fleck mit komisch weit aufgerissenen Augen.
Die anderen Schüler bereiteten sich auf das Waffentraining vor. Glänzende Pistolen wurden aus ihren Schatullen geholt; Lappen und Öl herbeigeschafft, um die todbringenden Dinger zu reinigen. Rose zog eine Grimasse. In Selbstverteidigung war sie gut, so gut, dass sie gelegentlich sogar Kurts Schläge abwehrte. Doch das ehemalige Dienstmädchen scheute sich davor, Waffen anzufassen. Feuerwaffen waren für Leute von Stand. Nicht anfassen.
Sie wusste, dass Kurt schon jede Hoffnung aufgegeben hatte, je eine offensive Einsatzkraft aus ihr zu machen. Trotz all des Extratrainings, das er ihr angedeihen ließ, Rose konnte sich nicht überwinden anzugreifen. Sie hatte ohnehin das Gefühl, dass er sie als seine persönliche Schülerin ansah. Er betrachtete ihre Berufserfahrung als Dienstbotin als großen Vorteil bei der Annäherung an eine Zielperson, aber dann musste sie sehen, dass sie davonkam. Roses Magen rebellierte. Rose, die Attentäterin? Nein.
Aber Rose, die Spionin … vielleicht. Solange sie nicht vergaß, was für eine Frau aus ihr geworden war.
Sie war schon als Kind dickköpfig gewesen. Nachdem sie als Dienstmädchen angefangen hatte, war ihr klar geworden, dass ihr der Starrsinn nicht gut tat. Viele Peitschenhiebe später war die Rebellin in ihr schon fast bezwungen gewesen.
Bis Clara Simpson erschienen war. Rose hatte auf dem Speicher allein in ihre Pritsche geweint, wohin man sie nach allzu vielen ungelenken Missgeschicken verbannt hatte. Sie hatte sich oft gefragt, warum Mr. Wadsworth sie nicht einfach an die Luft gesetzt hatte, aber in seinem Haushalt kamen und gingen die Dienstboten in einem Maße, dass er möglicherweise glaubte, er habe es längst getan.
Schließlich hatte niemand sie mit Namen gerufen. Man hatte sie so oft mit »Sie da!« oder »Mädchen« angesprochen, dass sie sich des Nachts in der Dunkelheit den eigenen Namen vorgesagt hatte, nur um den Klang nicht zu vergessen. Ein Hauch von Rebellion, immerhin.
Die verwitwete Karikaturistin Clara Simpson hatte wie ein Racheengel die Szene betreten, voller Mitgefühl, mit gestohlenem Essen und dem sonderbaren Wunsch, Roses Platz einzunehmen. Anfangs war Rose einfach nur glücklich gewesen, ein paar Stunden lang schlafen zu können, während Clara als Hausmädchen arbeitete, denn ihr war, als könne sie nie genug Schlaf bekommen. Dann, eines Tages, nachdem die Ruhe und das gute Essen ihr zu neuer Kraft verholfen hatten, hatte Rose sich gefragt, was Clara im Hause Wadsworth so faszinierte.
In einem vergessenen Winkel ihres Verstandes hatte sich Neugier geregt und ihr die Sinne geschärft, während das Versteckspiel um Information ihr Leben aufgehellt hatte. Anfangs war da so vieles gewesen, das sie nicht verstanden hatte, komplizierte Konstrukte, die keinen Sinn ergeben hatten - bis sie die Ausbildung in der Liar’s Academy aufgenommen hatte.
In den Geschichts- und
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